Wissen
International

Stanislaw Petrow, der die Welt rettete, ist einen stillen Tod gestorben

In this Thursday, Aug. 27, 2015 photo former Soviet missile defense forces officer Stanislav Petrov poses for a photo at his home in Fryazino, Moscow region, Russia. On Sept. 26, 1983, despite the dat ...
Bescheidener Rentner: Petrow im Jahr 2015.Bild: AP/AP

Dieser Herr rettete die Welt vor einem Atomkrieg. Jetzt starb er einen stillen Tod

19.09.2017, 08:5620.09.2017, 02:15

26. September 1983, kurz nach Mitternacht: In einem Bunker in der Stadt Serpuchow, rund 50 Kilometer südlich von Moskau, beginnt eine schrille Sirene zu heulen. Ein Computer in der Kommandozentrale der sowjetischen Luftraumüberwachung schlägt Alarm: Er meldet eine amerikanische Atomrakete, die sich im Anflug befindet. 

Dem diensthabenden Offizier, Oberstleutnant Stanislaw Petrow, bleiben nur wenige Minuten. Der 44-Jährige muss entscheiden: Handelt es sich um einen Fehlalarm – oder sind die USA dabei, die Sowjetunion mit einem nuklearen Erstschlag anzugreifen? Für den Fall eines atomaren Angriffs kennt die sowjetische Doktrin nur eine Antwort: einen massiven nuklearen Gegenschlag mit allen verfügbaren Mitteln.

Atomwaffen

Petrow zögert. Seltsam ist, dass die Amerikaner nur eine Rakete lanciert haben – ein nuklearer Enthauptungsschlag, mit dem die USA versuchen könnten, die sowjetische Kapazität für einen Vergeltungsschlag auszuschalten, sieht anders aus. Zudem hat es in der Vergangenheit mehrmals Zweifel an der Zuverlässigkeit des Frühwarnsystems gegeben.  

Fünf Minutemen-Atomraketen

Satellitenbilder der amerikanischen Raketenbasis verschaffen Petrow keine Klarheit. Zwar sind darauf keine Raketenstarts erkennbar, aber da die Basis sich gerade auf der Tag-Nacht-Grenze befindet, sind die Aufnahmen undeutlich. Petrow entschliesst sich, dem Militärkommando einen Fehlalarm zu melden. 

Kaum hat der Offizier den Alarm als Fehler eingestuft, meldet der Computer erneut einen amerikanischen Angriff. Nun sollen es vier weitere Atomraketen sein, die sich kurz nacheinander dem sowjetischen Luftraum nähern. Insgesamt fünf Minutemen-Atomraketen, jede davon mit zehn Sprengköpfen ausgerüstet – es ist das mehrhundertfache Vernichtungspotenzial der Hiroshima-Bombe, das hier im Anflug ist. 

«Ich fühlte mich, als sässe ich auf glühenden Kohlen.»
Stanislaw Petrow

Wieder steht Petrow, der nicht auf weitere Daten zurückgreifen kann, vor demselben Dilemma: Den Angriff melden und damit den Atomkrieg auslösen – oder von einem Fehlalarm ausgehen und damit den Amerikanern möglicherweise einen vernichtenden Schlag gegen das sowjetische Vergeltungspotenzial ermöglichen. 

In this Thursday, Aug. 27, 2015 photo former Soviet missile defense forces officer Stanislav Petrov poses for a photo at his home in Fryazino, Moscow region, Russia. On Sept. 26, 1983, despite the dat ...
Petrow starb am 19. Mai 2017 in Frjasino bei Moskau.Bild: AP/AP

Viel später, im Jahr 2013, schilderte Petrow dem russischen Dienst der BBC, wie die Situation sich damals für ihn darstellte: «Ich hatte alle Daten [die für einen Raketenangriff sprachen]. Hätte ich meinen Bericht die Befehlskette hinaufgeschickt, niemand hätte ein Wort dagegen gesagt.» Er fügte hinzu: «Ich hätte nur das Telefon in die Hand nehmen und die direkte Linie zum Kommando wählen müssen  – aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich fühlte mich, als sässe ich auf glühenden Kohlen.» 

«Was für eine Erleichterung!»

Petrow überlegt. Er kommt zum Schluss, dass vier bis fünf Atomraketen zu wenig sind, um einen US-Angriff plausibel erscheinen zu lassen. Ein amerikanischer Erstschlag, so seine Einschätzung, müsste mit viel massiveren Mitteln erfolgen. Wieder meldet er einen Fehlalarm. 

History

«23 Minuten später wurde mir klar, dass nichts passiert war. Wäre es ein realer Angriff gewesen, hätte ich zu diesem Zeitpunkt schon davon erfahren. Was für eine Erleichterung!», erzählte Petrow der BBC. Die vermeintlichen amerikanischen Atomraketen waren in Wahrheit von Wolken reflektierte Sonnenstrahlen gewesen – das sowjetische Frühwarnsystem hatte sie irrtümlich als Raketenstarts interpretiert. 

Trailer: «The Man Who Saved The World» (2015).Video: YouTube/Movieclips Film Festivals & Indie Films

Gespannte Atmosphäre

Der Fehlalarm war umso gefährlicher, als sich die Beziehungen zwischen den beiden Supermächten 1983 auf einem Tiefpunkt befanden. In diesem Jahr hatte US-Präsident Ronald Reagan die Sowjetunion zum «Reich des Bösen» ernannt und zudem den Aufbau eines Abwehrschirms gegen Interkontinentalraketen (SDI) angekündigt.

Erst am 1. September hatte zudem ein sowjetischer Abfangjäger ein verirrtes koreanisches Passagierflugzeug abgeschossen, das irrtümlich den sowjetischen Luftraum verletzt hatte. Die relativ entspannten 70er Jahre waren vorbei, zwischen den Supermächten herrschte abgrundtiefes Misstrauen. 

Anzahl nukleare Sprengköpfe

Grafik: Anzahl der nuklearen Sprengköpfe im Arsenal der USA und der Sowjetunion / von Russland, 1945 bis 2014.
Die Grafik zeigt das nukleare Arsenal der Supermächte von der ersten Atombombe 1945 bis 2014. 1983 übertraf das sowjetische Arsenal bereits das amerikanische. Grafik: Wikimedia

Für seine Entscheidung wurde der Oberstleutnant weder belobigt noch bestraft. Seine Vorgesetzten zogen es vor, die Angelegenheit diskret unter den Teppich zu kehren – schliesslich hatte der Vorfall gezeigt, dass das sowjetische Frühwarnsystem gefährlich fehleranfällig war. Erst später, nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Untergang der Sowjetunion, wurde Petrow ausgezeichnet. So erhielt er 2006 den World Citizen Award und 2013 den Dresden-Preis. 

Am 19. Mai 2017 starb Stanislas Petrow, der ein bescheidenes Rentnerdasein geführt hatte, im Alter von 77 Jahren in Frjasino bei Moskau. Sein Tod blieb von der Öffentlichkeit zunächst unbemerkt; Petrow hatte zurückgezogen gelebt. Er hatte immer wieder betont, er habe nicht die Welt gerettet, sondern «nur seinen Job gemacht». 

Haarscharf an der Apokalypse vorbei
Schon 1979, als die Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion noch bedeutend entspannter waren, hatte ein Frühwarnsystem beinahe einen Atomkrieg verursacht. Diesmal war es jedoch das US-System NORAD, das Präsident Jimmy Carter aufgrund eines Softwarefehlers hunderte von anfliegenden Atomraketen meldete. Später wurden sogar tausende daraus. In Wahrheit handelte es sich lediglich um Phantomdaten einer Simulation. 
Geschichte – die Vergangenheit lebt!
Von der Attischen Seuche bis Ebola – 13 Pandemien, die Angst und Schrecken verbreiteten
31
Von der Attischen Seuche bis Ebola – 13 Pandemien, die Angst und Schrecken verbreiteten
von Daniel Huber
Der Mann, der nicht sterben wollte – wie der «Seehund-Mann» im kalten Atlantik überlebte
10
Der Mann, der nicht sterben wollte – wie der «Seehund-Mann» im kalten Atlantik überlebte
von Daniel Huber
Jetzt kannst du virtuell ins Landesmuseum: «Nonnen. Starke Frauen im Mittelalter»
5
Jetzt kannst du virtuell ins Landesmuseum: «Nonnen. Starke Frauen im Mittelalter»
Marie Curie – Die Frau, die uns die Strahlen brachte
17
Marie Curie – Die Frau, die uns die Strahlen brachte
von Anna Rothenfluh
Keep Calm and Carry On – wenn ein Weltkriegsplakat plötzlich wieder hochaktuell wird
19
Keep Calm and Carry On – wenn ein Weltkriegsplakat plötzlich wieder hochaktuell wird
von Oliver Baroni
Prominenz, Betrug und Homosexualität – der spektakulärste Mord des 19. Jahrhunderts
12
Prominenz, Betrug und Homosexualität – der spektakulärste Mord des 19. Jahrhunderts
von Klaus Zaugg
Als ein Bauer im Bernbiet eine Atombombe bauen wollte – mit Bewilligung des Bundes
20
Als ein Bauer im Bernbiet eine Atombombe bauen wollte – mit Bewilligung des Bundes
von Klaus Zaugg
«Mach mir ein Kind», befahl die Amazone Alexander dem Grossen
8
«Mach mir ein Kind», befahl die Amazone Alexander dem Grossen
von Anna Rothenfluh
Die einzige Saison, in der die Schweiz keinen Fussballmeister hatte
6
Die einzige Saison, in der die Schweiz keinen Fussballmeister hatte
von Ralf Meile
Geheimes Treffen in Ascona – Wie ein SS-General im Tessin mit den Alliierten verhandelte
2
Geheimes Treffen in Ascona – Wie ein SS-General im Tessin mit den Alliierten verhandelte
von Raphael Rues
10 Pfund Sterling für eine Leiche – wie Burke und Hare für die Wissenschaft mordeten
20
10 Pfund Sterling für eine Leiche – wie Burke und Hare für die Wissenschaft mordeten
von Florian Huber
Diese Grafik zeigt dir, warum wir den 29. Februar brauchen
20
Diese Grafik zeigt dir, warum wir den 29. Februar brauchen
von Daniel Huber, Lea Senn
«Ja, das wäre sensationell!» – Ist der Mord an Schwedens Regierungschef Palme aufgeklärt?
11
«Ja, das wäre sensationell!» – Ist der Mord an Schwedens Regierungschef Palme aufgeklärt?
Evakuiert – 8 Schweizer Orte, die das Schicksal von Mitholz teilten
16
Evakuiert – 8 Schweizer Orte, die das Schicksal von Mitholz teilten
von Daniel Huber
Vom Sklaven zum Botschafter am Hof des Sultans – Johann Rudolf Schmid von Schwarzenhorn
1
Vom Sklaven zum Botschafter am Hof des Sultans – Johann Rudolf Schmid von Schwarzenhorn
von Elisabeth Schraut
Luftkampf unter dem Eiffelturm – stimmt diese Geschichte wirklich?
4
Luftkampf unter dem Eiffelturm – stimmt diese Geschichte wirklich?
von Daniel Huber
Drogen, Waffen, Menschenversuche – 7 spektakuläre Operationen der US-Geheimdienste
32
Drogen, Waffen, Menschenversuche – 7 spektakuläre Operationen der US-Geheimdienste
von Daniel Huber
Die Chiffriermaschine Enigma und die Schweiz
9
Die Chiffriermaschine Enigma und die Schweiz
von Dominik Landwehr
Vor genau 50 Jahren: Als der Terror die Schweiz heimsuchte
27
Vor genau 50 Jahren: Als der Terror die Schweiz heimsuchte
von Christoph Bopp
Wetten, du kennst nicht alle diese 10 Mikrostaaten?
41
Wetten, du kennst nicht alle diese 10 Mikrostaaten?
von Daniel Huber
Abaelard und Heloise: Wenn ein bisschen Sadomaso zur Entmannung führt
23
Abaelard und Heloise: Wenn ein bisschen Sadomaso zur Entmannung führt
von Anna Rothenfluh
Alfred de Quervain – der Schweizer Eismann
1
Alfred de Quervain – der Schweizer Eismann
von Andrej Abplanalp

Und heute? Gefährlich ist vor allem die Lage auf der koreanischen Halbinsel

Video: watson/Nico Franzoni
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
Du hast uns was zu sagen?
Hast du einen relevanten Input oder hast du einen Fehler entdeckt? Du kannst uns dein Anliegen gerne via Formular übermitteln.
21 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
ChlyklassSFI // FCK NZS
19.09.2017 09:34registriert Juli 2017
Herr Petrow:
Solche Leute, wie Sie einer waren, braucht es: Diplomaten, Brückenbauer, Vermittler, Schlichter.
20
Melden
Zum Kommentar
avatar
Überdimensionierte Riesenshrimps aka Reaper
19.09.2017 09:19registriert Juni 2016
Ruhe in Frieden Grosser Weltenretter 🙂
Danke das Du uns das Leben geschenkt hast 🙂
40
Melden
Zum Kommentar
avatar
Posersalami
19.09.2017 10:12registriert September 2016
Danke für ihren Einsatz und RIP. Sie sind ein Held der Menschheit. Menschen mit einem solchen Rückgrat gibt es heute wohl nicht mehr all zu viele.
20
Melden
Zum Kommentar
21
Mona Lisa, Watteau, Corot: Diese Kunstschätze wurden im Louvre gestohlen
Der Diebstahl im Louvre beschäftigt die französischen Ermittler weiterhin. Dabei war es nicht das erste Mal, dass wertvolle Kunst aus dem Museum entwendet wurde. Und es war auch nicht der spektakulärste Raub.
Sieben Minuten reichten, um für immer in die Geschichte einzugehen: Der Diebstahl von acht Schmuckstücken im Pariser Louvre macht international Schlagzeilen. Zur Beute gehören etwa ein Diadem der Königinnen Marie-Amélie und Hortense, die Krone und ein Diadem von Kaiserin Eugénie und eine Smaragdkette von Kasierin Marie-Louise. Wer hinter der Tat steckt, ist noch unklar. Die Diebe sind weiterhin auf der Flucht.
Zur Story