Beten ist bei den meisten Glaubensgemeinschaften ein zentrales Ritual. Christen verstehen das Gebet als Zwiegespräch mit Gott oder Jesus. Sie können ihrem Herrn die Sorgen mitteilen und hoffen, dass er ihre Not lindert.
Die Schweizerische Evangelische Allianz (SEA), ein Zusammenschluss von Freikirchen und einzelnen reformierten Kirchgemeinden, führt jedes Jahr im Januar eine Gebetswoche durch. In diesem Jahr steht sie unter dem Motto «Miteinander Hoffnung leben».
Ihr Credo: In der Allianzgebetswoche vom 12. bis 19. Januar gehe es darum, «die Perspektive zu wechseln – weg von den Krisen und Problemen hin zu Jesus Christus, dem Grund der christlichen Hoffnung».
Diese Aussage ist entlarvend. Sie zeigt einerseits, dass für Glaubensgemeinschaften und Pastoren das Elend auf der Welt ein unlösbares Dilemma darstellt, das sie in Erklärungsnot bringt. Darum lieber «weg von den Problemen».
Wenn sie doch einmal gezwungen werden, theologische Antworten auf Kriege und Katastrophen zu geben, sind sie heillos überfordert. Sie biegen ihr Dogma vom barmherzigen Vater, der seine schützende Hand über die Gläubigen legt, arg zurecht und flüchten zu ihrer Standardantwort: Gott hat uns den freien Willen gegeben, auch Böses zu tun.
Ausserdem beten Christen, Muslime, Juden und Hindus seit Jahrtausenden für den Frieden. Friedlicher ist die Welt trotzdem nicht geworden. Sie suchen auch krampfhaft Hinweise für das Wirken Gottes auf der Erde. Ohne nachweisbare oder empirische Erfolge.
Die SEA gibt in der Gebetswoche täglich Texte mit religiösen Inhalten heraus. Dazu schreibt die Allianz: «Sie erzählen beispielsweise vom umfassenden Frieden, den nur Gott schenken kann und der die Grundlage dafür ist, Hoffnung für die Welt zu haben.»
Mit der Aussage vom umfassenden Frieden wird den Gläubigen Sand in die Augen gestreut. Auch bei den vielen aktuellen internationalen Konflikten glänzt Gott durch Abwesenheit. Gegen militante Glaubensgemeinschaften, Diktatoren und Kriegsherren scheint Gott machtlos zu sein.
Ausserdem: Millionen von Menschen haben schon Gott angefleht, Kriege zu stoppen. Doch es werden weiterhin Kinder, Frauen und alte Menschen von gläubigen Soldaten massakriert.
Die Ambivalenz des Glaubens und Betens zeigt auch folgendes Beispiel: Russische Mütter beten, dass ihre Armee die Ukraine rasch einnehmen kann, damit ihre Söhne beim Abnützungskrieg nicht ums Leben kommen. Gleichzeitig beten ukrainische Mütter, dass ihre Soldaten den Blutzoll so stark in die Höhe treiben können, dass das russische Volk einen Aufstand wagt und Putin aus dem Kreml verjagt. Wessen Gebet soll Gott nun erhören?
Die Allianz hat schon oft dazu aufgerufen, für den Frieden zu beten. Eine edle Geste, ohne Zweifel. Doch ebenfalls erfolglos. Dabei besteht die Gefahr, dass sich die Gläubigen in der falschen Gewissheit wähnen, mit dem Gebet einen Beitrag zum Frieden zu leisten. Eine religiöse Illusion.
Es wäre besser, einen realistischen Blick auf die Welt und die kriegerischen Auseinandersetzungen zu werfen. Und weltliche Möglichkeiten zu nutzen, um zum Frieden beizutragen.
Beten hat viel mit Angst und Sehnsucht zu tun. Dabei spielen Einbildungskraft und Autosuggestion eine wichtige Rolle. Unser Hirn ist sehr flexibel. Es produziert jene Assoziationen, Ideen und Gedanken, die wir herbeisehnen. Wir halten sie für wahr und realisieren häufig nicht, dass es Täuschungen sind.
Wir finden, was wir suchen. Und blenden aus, was uns missfällt. Wir unterdrücken gern, was unsere Hoffnungen trüben könnte.
Wenn man allerdings hinter die Kulisse der SEA schaut, ist man nicht erstaunt über die Ideen der Gebetswoche. Die Mehrheit der assoziierten 670 Gemeinden und 250 christlichen Werke haben einen freikirchlichen Hintergrund und predigen ein dogmatisches bis fundamentalistisches Christentum.
Sie glauben an einen Gott, der in die Welt wirkt und mit dem man direkt kommunizieren kann. Der also fähig sein soll, Frieden konkret zu stiften.
Auch die Führungskräfte der SEA entstammen mehrheitlich dem freikirchlichen Milieu. Als Präsident amtet Wilf Gasser, der Übervater der freikirchlichen Szene. Er sitzt in mehreren Leitungsgremien. Beat Ungricht ist Co-Präsident der SEA und Regionalleiter von Viva Kirche, einem Zusammenschluss von Freikirchen.
Jean-Luc Ziehli, welscher Co-Präsident der SEA, ist Pastor einer Freikirche in Sion. Generalsekretär Andi Bachmann hat im evangelikal geprägten Bildungsinstitut IGW in Zürich Theologie studiert.
Auch sie werden für den Frieden beten. Ob aber derjenige, in den sie ihre ganze Hoffnung setzen, ihnen zuhören und ihre Wünsche erfüllen wird, steht in den Sternen.