Der Eurovision Song Contest (ESC) ist eine der grössten Musikveranstaltungen, die weltweit rund 180 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer vor die Fernseher lockt. Der mediale Hype ist in Europa riesig. Bei diesem Wettbewerb gibt es zwei grosse Sieger. Die Musikerinnen und Musiker sowie das Land, für das sie die Bühne rocken.
Für die Künstler geht es um Ruhm und Geld. Für das Siegerland um Image und Ehre, denn es darf sich im folgenden Jahr der Welt im besten Licht präsentieren. Es muss die Veranstaltung durchführen. Das ist PR der Superlative und kurbelt den Tourismus an. Während und nach dem Event.
Nun erhält die Schweiz dank Nemos Sieg die einmalige Chance, sich ins internationale Schaufenster zu stellen. Darum beneiden uns alle Teilnehmer-Länder. Doch christliche Fundis und die Erbsenzähler der SVP wollen uns die Megaveranstaltung vergällen.
Die einen schreien «Satanismus und Blasphemie», die anderen «viel zu teuer». Und die Welt schaut verstört auf uns und denkt: Was für miesepetrige und rückständige Hinterwälder sind doch die Alpenbewohner!
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich gehöre nicht zum Zielpublikum des ESC. Der Hype und die Musik sind nicht meine Kragenweite. Der Event macht aber viele Leute happy – das freut mich für sie.
Nehmen wir uns zuerst die SVP vor. Über sie müssen wir nicht lange lamentieren. Die Blochers (Industrielle) und Matters (Banker) senken lieber die Steuern für die Reichen, als ein bisschen Geld in die Imagewerbung zu stecken. Geld, das vermutlich ziemlich viel Rendite abwirft.
Parteipräsident Marcel Dettling singt im Chor der Erbsenzähler mit. «Es ist richtig, dass der Stimmbürger entscheiden kann und nicht einfach die Classe politique die Geldverschwendung beschliesst», sagte er.
Wie bitte? Classe politique? Es ist der Zürcher Kantonsrat, der bereits 5 Millionen Franken für den ESC gesprochen hat. Ein Parlament, das von bürgerlichen Politikerinnen und Politikern aus der «Classe politique» dominiert wird.
Der zweite Teil der Aussage von Dettling verrät seine geistige Haltung, die zur Ablehnung des ESC führt: «Das Geld sollte besser den schwer geschädigten Unwettergeschädigten gespendet statt für diesen peinlichen Regenbogen-Anlass verschwendet werden.» Hoppla. Der Regenbogen passt halt nicht zum Familienbild der SVP-Strategen, wonach Gott Mann und Frau mit klarer Geschlechtszuordnung schuf.
Wenden wir uns bei diesem Stichwort den frommen Christen zu, die bereits Unterschriftenbogen für Referenden gedruckt haben, um die allfälligen Subventionen für die möglichen Austragungsorte Genf, Zürich, Basel, Bern und Biel zu verhindern.
Den heiligen Furor fachten die Parteigranden der EDU (Eidgenössisch-Demokratische Union) an, die eine Brandmauer gegen die angeblich gottlose LGBTQ-Gemeinde und die Satanisten hochziehen wollen.
Das klingt aus dem Mund von Parteipräsident Daniel Frischknecht so: «Inhalt dieses Anlasses ist Rassismus, Antisemitismus, Satanismus, Blasphemie. Und so destruktive Sachen wie das dritte Geschlecht. Das ist absolut ein scheusslicher Anlass. Es ist wirklich auch die Frage an die Bevölkerung: Wollen wir 40 Millionen verblöden für einen solchen Anlass, der unser Volk mit dem Zeug überflutet? (…) Für Schweden war es ein Anlass der Schande, der das Land abgewertet und nicht aufgewertet hat. Den ESC in der Schweiz müssen wir mit allen Mitteln verhindern.»
Die EDU ist zwar eine kleine Partei, sie verfügt aber mit Andreas Gafner und Erich Vontobel über zwei Nationalräte. Ihr Ziel ist es, christliche Politik in der Schweiz salonfähig zu machen. Gott überall und über allem. Charakterisiert auf fundamentale Art.
Das Credo der Partei: «Mitglieder der EDU vertrauen auf die biblische Schöpfungsgeschichte und beziehen die Dimension des biblischen Gottes als wichtigsten Faktor des Universums in ihre Politik mit ein. Auf dieser Grundlage nehmen Exponentinnen und Exponenten der EDU ihre Verantwortung als Christen gegenüber dem Schöpfer, der Schöpfung, der Gesellschaft und dem Staat wahr, in dem wir leben dürfen.»
Da versteckt sich ein antiquierter und alttestamentarischer Groove, der aus der Zeit gefallen ist.
Und weiter: «Die EDU betrachtet die Zehn Gebote Gottes und das Evangelium von Jesus Christus als die beste Grundlage für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben in Staat und Gesellschaft.»
Hier zeigt sich die religiöse Arroganz: Der christliche Glaube ist das Mass aller Dinge und den anderen Religionen ethisch und moralisch überlegen. Für die EDU sollte es unter der Bundeshauskuppel nur noch einen Gott geben, den christlichen.
Nur: Wir haben die Glaubensfreiheit in der Verfassung verankert und dürfen auch an Allah, Shiva, Wotan oder sonst einen Gott glauben. Bundesräte, Ständeräte und Nationalräte dürfen auch gottlos politisieren und sich zum Atheismus bekennen. So funktioniert bei uns die Demokratie, Herr Frischknecht.
Falls Gott der EDU nicht bald zu Hilfe eilt, ist die Partei wohl bald ein Auslaufmodell. Denn ihr fundamentalistischer Geist wird junge Staatsbügerinnen und -bürger immer mehr abschrecken. Zumal die Zahl der Christen in Zeiten der Individualisierung und Säkularisierung stetig sinkt.
EDU und SVP können so lange und so laut protestieren, wie sie wollen, der ESC wird nächstes Jahr in der Schweiz stattfinden. Eine Absage wäre ein Skandal. Und eine Blamage sondergleichen. Vor allem die Begründungen – Regenbogen-Kritik, Antisemitismus, Rassismus, Blasphemie, Satanismus und Geld – würden weltweites Kopfschütteln auslösen. Dann wären wir das Land, das vor christlichen Fundis und geizigen Parteistrategen kuscht.