Wallfahrtsorte sind für die katholische Kirche ein Geschenk des Himmels. Jährlich pilgern Millionen von Gläubigen zu den angeblich heiligen Orten, an denen Gott, Jesus oder die heilige Jungfrau Maria Wunder wirken sollen. Pilgerorte sind für die Kirche PR-Stätten der Sonderklasse.
Wer die Mühe einer Pilgerreise auf sich nimmt und an die versprochenen Wunder glaubt, gehört trotz den Missbrauchsskandalen zu den treuen Schäfchen der Kirche.
Der wohl bekannteste und meistbesuchte Wallfahrtsort ist Lourdes. Jährlich pilgern rund 5 Millionen Gläubige zum katholischen Hotspot. Und dies, weil ein 14-jähriges Mädchen 1858 behauptete, ihr sei in einer Grotte die Mutter Gottes erschienen. Seither sprudelt eine Quelle aus dem Felsen. Dieses Wasser soll Wunderheilungen bewirken.
Man muss sich das Phänomen bildlich vorstellen. Da kommt ein Mädchen daher, stellt eine kuriose Behauptung auf – und die katholische Kirche steht Kopf. Kritische Fragen zu dem kindlich-naiven Phänomen stellen die hohen Kirchenführer nicht, denn die Legende ist als PR-Instrument Gold wert.
Da wären folgende Fragen: Litt das Mädchen an einer Psychose oder hatte es Halluzinationen? Erfand es die Geschichte, um Aufmerksamkeit zu bekommen? Kann die Mutter Gottes in menschlicher Gestalt auf der Erde erscheinen? Wenn ja: Warum tut sie dies nur so selten?
Der Hype um die Wunderheilungen war mit der Zeit selbst dem Vatikan etwas unheimlich, denn Tausende blinde, lahme und schwerkranke Gläubige behaupteten, nach dem Besuch von Lourdes geheilt worden zu sein. An Wunderheilungen am Fliessband glaubten bestenfalls Hardliner.
Die Glaubwürdigkeit der Kurie stand auf dem Spiel. Deshalb sah sich der Vatikan vor rund 60 Jahren gezwungen, die angeblichen Heilungen zu untersuchen und dokumentieren. Er setzte dazu ein Ärztekomitee ein. Gläubige, die überzeugt sind, auf der Pilgerreise geheilt worden zu sein, können sich bei ihm melden.
Zu diesem Gremium gehört seit zehn Jahren auch Cornel Sieber, ärztlicher Direktor des Kantonsspitals Winterthur, wie der «Tages-Anzeiger» in diesen Tagen berichtete. Dass sich Ärzte bereit erklären, «Wunderheilungen» zu untersuchen, ist sehr speziell. Sie müssen wohl selbst an solche Heilungen glauben oder stramme Katholiken sein.
Sieber sagt dazu:
Bei der nächsten Frage bestätigt der Schweizer Arzt seinen Glauben. Sein Freund sei Experimentalphysiker und überzeugt, dass es keine Wunderheilungen gebe, sagte Sieber und erklärte:
Somit ist klar, dass Sieber an die Möglichkeit von Wundern glaubt. Damit verliert er seine Unabhängigkeit als neutraler Experte. Wer solche «Wunder» untersucht, muss auch die Annahme in Betracht ziehen, dass alle gemeldeten «Heilungen» Selbsttäuschungen sind oder sich medizinisch erklären lassen.
Weiter ist Sieber überzeugt, dass sich Wissenschaft und Glaube nicht beissen. Er geht jährlich nach Lourdes zu den Sitzungen und sagt: «Auch mit mir macht dieser Ort etwas. Was genau, ist sehr schwierig zu erklären, das muss man selbst erlebt haben.» So können nur Gläubige sprechen, die offen für religiöse Atmosphären und Massensuggestion sind.
Es stellen sich weitere Fragen: Was unterscheidet das Wasser von Lourdes von solchem, das aus beliebigen Quellen sprudelt? Mischt Maria ihm rund um die Uhr einen heilenden Wirkstoff bei?
Das müsste in feinstofflicher Form passieren, denn chemisch oder energetisch sind keine Unterschiede zu «normalem» Wasser nachweisbar. Zur Erinnerung: Bei den angeblichen Heilungen geht es nicht um harmlose chronische Krankheiten, sondern etwa um Krebs, Lähmungen oder Multiple Sklerose.
Ausserdem: Warum kommt es nur sehr selten zu den angeblichen Wunderheilungen? Warum lassen Gott oder Maria nur wenige Gläubige in den Genuss von solchen Phänomenen kommen? Nach welchen Kriterien wählen sie die Glücklichen aus?
Bisher wurden rund 7000 Heilungen dokumentiert, aber nur 70 als Wunderheilungen anerkannt. Also nur ein Prozent. Wenn man davon ausgeht, dass nur eine Minderheit der «Geheilten» sich beim Ärztekomitee meldet, schrumpft die Zahl der «Wunderheilungen» in den Promillebereich. Da fragt es sich, weshalb die katholische Kirche einen solchen Aufwand betreibt.
Wie auch immer: Es muss stark bezweifelt werden, dass die 70 «nachgewiesenen» Heilungen tatsächlich Wunderheilungen sind. Auch die Schulmedizin kennt das Phänomen von Spontanheilungen, die sich medizinisch (noch) nicht erklären lassen.
Beim ganzen Zirkus um die Wunderheilungen von Lourdes und den anderen Wallfahrtorten muss auch Folgendes in Betracht gezogen werden: Beim Glauben an die christliche Lehre spielen Wunder eine grosse Rolle. Ein paar Stichworte: Bei Moses teilte sich das Meer, Jesus konnte über das Wasser marschieren, er erweckte Tote zum Leben und teilte wundermässig Fische und Brot. Der Wunderglaube ist also bei der christlichen Lehre systemimmanent.
Viele «wundersame Spontanheilung» bei Pilgerreisen nach Lourdes lassen sich medizinisch oder psychologisch erklären. In dieser Ausnahmesituation spielt die Sehnsucht nach einer Begegnung mit der Mutter Gottes und die Hoffnung auf Heilung eine wichtige Rolle.
Adrenalin und Glückshormone fluten die Körper der Gläubigen, betäuben die Schmerzen und regen das Nervensystem an. Deshalb können beispielsweise Lahme ihre Krücken nach dem Gebet und dem Trinken des «heiligen Wassers» wegwerfen. Sobald die Euphorie verflogen ist, brauchen sie ihre Krücken wieder.
Dann bricht bei ihnen eine Welt zusammen und es ist für sie doppelt schwierig, ihr Leiden auszuhalten. So kann eine Pilgerreise zum Desaster werden.
Mit den Wallfahrtsorten gaukelt die katholische Kirche den Gläubigen eine Welt der Wunder vor, die ins Reich des Aberglaubens gehört.