Wenn Christoph Sigrist, der reformierte Pfarrer des ehrwürdigen Grossmünsters in Zürich, im Talar vor seiner Gemeinde steht, wirkt er so, wie halt Pfarrer in der Regel wirken. Etwas bieder und traditionell.
Setzt er aber zur Predigt an, fällt er meist rasch aus dem Rahmen. Er macht Aussagen, die man in Kirchen selten zu hören bekommt. So spricht er von Ungerechtigkeiten, thematisiert das Elend in der Welt und vermeidet es, den Gläubigen billigen Trost zu spenden. Christoph Sigrist ist offen und ehrlich, klassische Sonntagspredigten sind ihm ein Gräuel.
Für einen Geistlichen ist Christoph Sigrist höchst unkonventionell. Als Pfarrer der wohl bekanntesten Kirche in der Schweiz ist er ein Promi, der in Zürich, besonders aber im Kreis 1, Krethi und Plethi kennt. Er bewegt sich zwar auch in den gehobenen Kreisen, kümmert sich aber um die Armen und Obdachlosen.
Und er scheut sich nicht, bei allen ohne Umschweife unbequeme Themen anzusprechen. Auch bei Politikern und Wirtschaftsbossen.
Ob in der Zunft oder beim Rotary Club: Christoph Sigrist vertritt gern die Abgehängten und Armen. Und er animiert die Reichen lustvoll, namhafte Beträge für soziale und wohltätige Zwecke zu spenden. Und dies meist mit Erfolg.
So unkonventionell Christoph Sigrist als Privatperson in Erscheinung tritt, so erfrischend wirkt er auch als Pfarrer. Das Frömmlerische ist ihm fremd, der christliche Glaube muss sich in seinen Augen im Alltag bewähren.
Er glaubt nicht, dass Gott eins zu eins in die Welt wirkt und Gläubige privilegiert behandelt. Die Welt sieht er in vielen Bereichen als Produkt von Zufällen.
Seine geradlinige Haltung zeigt sich im Interview, das die bekannte Journalistin und Moderatorin Patrizia Laeri mit ihm im Online-Magazin «elleXX», das sich für die Anliegen der Frauen starkmacht, geführt hat. So überrascht es nicht, dass Laeri von Sigrist wissen will, ob Gott weiblich sei.
Weder noch, antwortet der Pfarrer. Es heisse aber DER Gott, wirft die Journalistin ein. Das müsse hinterfragt werden, erklärt Sigrist. Und wörtlich: «Die Entwicklungs- und Religionspsychologie sowie die feministische Theologie arbeiten an der Dekonstruktion des männlichen Gottesbildes. Dass Gott ein Mann sei, höre ich fast nicht mehr.»
Ob man dann gegendert Gott:in schreiben soll, will sie wissen. Solche Versuchsbewegungen seien sehr zu begrüssen, gibt Sigrist zu verstehen. Religion habe mit Emotionen zu tun und sei die Sprache des Glaubens und der Liebe.
Auf die Rolle der Frau in der Bibel angesprochen, antwortet er, die Kirche sei tatsächlich ein Patriarchat gewesen. Die Texte würden vor Unterdrückungssituationen nur so strotzen. «Wir wissen auch dank der feministischen Theologie, dass es zahlreiche patriarchalische Eingriffe in die biblischen Texte gab», sagt Sigrist.
Die Bibel habe ursprünglich mehr weibliche Figuren gekannt, gibt Sigrist zu bedenken. Diese seien rausgeschrieben worden. Er gibt auch zu bedenken, dass das Bild von der Rippe Adams, aus der Eva erwachsen sei, die christliche Welt geprägt habe.
So habe die Unterordnung der Frau durch den Mann leider auch bei den Reformatoren stattgefunden. Es sei eine andauernde Aufgabe, diesen Umstand zu durchbrechen.
Laeri hält Sigrist weiter vor, dass für Historiker:innen Religionen gar der Grund für die soziale Ungleichheit zwischen Mann und Frau seien.
«Ja, wir dürfen die Wirkungen von biblischen Texten nicht mehr tabuisieren, sondern müssen sie offenlegen. Die Kirche hat sich da viel Schuld in der menschlichen Geschichte aufgeladen und patriarchale Strukturen zementiert. Darüber müssen wir reden», gibt der Pfarrer zu bedenken.
Laeri konfrontiert Sigrist ausserdem mit dem Vorwurf, Weltreligionen hätten die männliche Dominanz in der Gesellschaft legitimiert. Es seien Religionen von und für Männer.
Das habe verheerende Auswirkungen gehabt, gesteht Sigrist, die in der Ausgrenzung der Frauen vom Klerikerstand im Katholizismus gegipfelt haben. «Aber auch lange bei den Reformatoren. Man stelle sich vor: In der reformierten Kirche wurde 1918 die erste europäische Frau in der Schweiz im St. Peter in Zürich ordiniert, wurde aber als Sozialarbeiterin am Grossmünster angestellt, nicht als Pfarrerin. Die ersten gewählten Pfarrerinnen kamen in den 1960er Jahren», gibt der Pfarrer zu bedenken.
Die Journalistin wirft ihm weiter vor, gegen patriarchalische Strukturen zu kämpfen, aber innerhalb dieser eine der höchsten Führungspositionen erklommen zu haben. «Ja, verrückt, und das als Grenzgänger», antwortet Sigrist. Er sei hochsensibel gegenüber Machtstrukturen und leide darunter, wenn er dazu beitrage.
Darauf bemerkt Laeri, er sei der Inbegriff eines Machos, engagiere er sich doch als Mitglied zahlreicher Männerclubs: Feldprediger in der Armee, Mitglied einer Zunft und im Rotary Club. «Das stimmt», gibt Sigrist freimütig zu. «Ich darf dort sitzen, wo die Macht ist – und zwar für die Ohnmächtigen. Ich arbeite an der Umverteilung der Macht. Dort, wo die Schwachen keine Stimme haben, muss ich sie für sie erheben. Ich halte im Grossmünster Beerdigungen für Köbi Kuhn, aber genauso für den Heiri vom Obdachlosenheim. Man darf sich nicht korrumpieren lassen von der Macht. Ich fühle mich in diesen Zirkeln – trotz Freundschaften – im Übrigen auch nicht immer wohl. Manchmal ist Macht eine Gratwanderung zwischen Profit und Prostitution.»
Wenn die Landeskirchen mehr Pfarrer wie Christoph Sigrist in ihren Reihen hätten, wäre der Mitgliederschwund wohl wesentlich kleiner.