Früher erklärten die Stellvertreter Gottes den Menschen die Welt von A wie Adam bis Z wie Zeit. Die Deutungshoheit in religiösen und oft auch weltlichen Fragen lag bei den Geistlichen, die gern vorgaben, einen direkten Draht zu Gott und somit zur Wahrheit zu haben.
Heute vertrauen wir mehr den Natur- und Geisteswissenschaften, die die Welt mit überprüfbaren Methoden zu erklären versuchen und der Wirklichkeit immer mehr auf die Spur kommen. Im Alltag hat deshalb die Ratio der Religion den Rang abgelaufen.
Diese Gleichung akzeptiert Kardinal Kurt Koch nicht. Der ranghöchste Schweizer Katholik liefert uns in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger zu Weihnachten ein Lehrstück in aktueller religiöser Welterklärung. Dabei versucht der Geistliche auch, uns die Coronapandemie aus christlicher Sicht zu erklären.
Dass sich Kurt Koch dem Experiment stellt, ist mutig. Er müsste eigentlich wissen, dass er sich damit möglicherweise in Teufels Küche begibt. Deutlich wird dabei, dass er in seiner religiösen Überzeugung glaubt, den Test zu bestehen. Er ist wie alle tiefgläubigen Menschen sicher, dank des Glaubens plausible Antworten auf alle Fragen zu Gott und der Welt zu finden.
Der geistige Eiertanz von Koch beginnt schon bei der ersten Antwort. Auf die Frage von Journalist Linus Schöpfer, wie die Kirche die Pandemie heute deute, erhalten die Leser nur nebulöse Ausführungen. Dabei dokumentiert der Kardinal – vermutlich ungewollt – das Dilemma des christlichen Glaubens. So sagt Koch, es wäre eine problematische Vorstellung von Gott, wenn man sich ihn als ein Wesen vorstellen würde, das Krankheiten und Seuchen erfindet, um Menschen zu bestrafen.
Weiter führt er aus, dass die Ärmsten am meisten unter der Pandemie leiden würden. Diese seien aber die Lieblingskinder Gottes, zu denen er besonders Sorge trage.
Wie geht denn das zusammen? Wo denn, Herr Koch, trägt Gott den Ärmsten besonders Sorge? Wenn wir davon ausgehen, dass Gott das Virus nicht selbst in die Welt gebracht hat, so könnte er in seiner sprichwörtlichen Barmherzigkeit wenigstens das Leiden der Ärmsten lindern, die ihm angeblich so am Herzen liegen.
Ganz abgesehen davon, dass diese schon vor Corona viel gelitten haben. Und es vermutlich auch dann noch tun werden, wenn die reichen Länder das Virus in die Schranken gewiesen haben.
Koch beantwortet auch die Frage nicht, ob die Pandemie nach biblischer Manier eine Strafe Gottes sei. So lässt Koch die Gläubigen selbst in diesem zentralen religiösen Aspekt im Stich.
Der Grund ist einfach: Bei allen möglichen konkreten Antworten würden Gott und der christliche Glaube eine schlechte Falle machen und Koch sich in Widersprüche zur reinen christlichen Lehre verstricken.
Indirekt gibt Koch sein Dilemma zu:
Das bedeutet, dass wir in religiösen Angelegenheiten die Frage nach dem Warum besser nicht stellen. Wozu braucht es dann noch den Glauben, wenn es auf die entscheidenden Fragen keine Antworten gibt?
Koch schlägt vor, lieber die Frage nach dem Wozu und nach der Überwindung des Bösen zu stellen. Der Kardinal wörtlich: «Im Johannes-Evangelium sagt Jesus über den Jüngsten Tag: ‹Dann werdet ihr mich nichts mehr fragen› (6, 23). Dies heisst, dass die Fragen nach dem Warum des Bösen eine endgültige Antwort erst im Jüngsten Gericht erhalten werden.» Also schon wieder ein Problem, auf das die Religion offenbar keine Antwort hat.
Das führt Koch zur Frage des Leidens. Das Leiden, das überwunden werden könne, soll bekämpft werden, rät der Kardinal. Dasjenige hingegen, das nicht überwunden werden kann, sollen wir ertragen lernen.
Womit wir wieder bei den Ärmsten sind, für die Gott angeblich besonders Sorge trägt. Die Realität sieht aber anders aus. Die Reichen haben unzählige Möglichkeiten, das Leiden bei sich zu bekämpfen. Die Ärmsten hingegen müssen nur schon bei einer Infektion das Leiden ertragen lernen, weil sie keinen Zugang zu Antibiotika und Schmerzmittel haben. Ganz zu schweigen von Malaria, einem geplatzten Blinddarm oder Krebs. Oder Naturkatastrophen und Hungersnöten.
Auch da fallen die religiösen Erklärungsversuche von Kardinal Koch in sich zusammen. Oder anders herum: Auch die Bibel ist nicht sehr hilfreich, wenn es darum geht, Fragen nach dem Warum und nach der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes zu beantworten.
Weiter erklärt Koch, dass das Leiden der Unschuldigen «die härteste Frage beim Glauben an die Existenz eines barmherzigen Gottes» sei. Dann folgt ein persönliches Geständnis, das Auskunft über Kochs Motivation für den Glauben gibt:
Religion als Rezept gegen die Verzweiflung?
Koch hält ausserdem die Schöpfung Gottes für vernünftig, «weil sie aus der Vernunft Gottes kommt». Das alttestamentliche Buch Genesis nenne die Schöpfung sogar gut. «Dann freilich entsteht die grosse Frage erst recht, warum und wie das Übel in die Welt gekommen ist.» Und wieder hat Koch keine Antwort parat.
Eine frohe Weihnachtsbotschaft sieht anders aus.