Es ist eine Binsenwahrheit: Die traditionellen Glaubensgemeinschaften krebsen, die Pfarrer predigen immer häufiger vor leeren Kirchenbänken. Die Zahl der Austritte nimmt zu, und viele Christen, die noch Kirchensteuer zahlen, praktizieren den Glauben nicht mehr aktiv.
Einzig an Weihnachten besuchen viele noch den Gottesdienst. Tradition und feierliche Atmosphäre locken sie in die Kirche.
Die vielen Kirchenaustritte und die Gleichgültigkeit gegenüber dem christlichen Glauben bedeuten aber nicht, dass die Leute areligiös oder atheistisch werden. Dieser Schritt erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit Fragen des Glaubens und der Transzendenz. Diesen geistigen Kraftakt wollen oder können viele nicht stemmen.
Deshalb brauchen sie eine Ersatzreligion. Das Angebot dazu ist in unserer Konsumwelt gross. Dies hat den Vorteil, dass man aus einer Vielzahl von Ideen, spirituellen Konzepten und Gruppen auswählen kann. Ähnlich wie beim Einkauf in einem Konsumtempel.
Tatsächlich funktionieren die neuen Heilsangebote wie ein Selbstbedienungsladen. Marktführer ist die Esoterik. Sie bietet Hunderte von übersinnlichen Rezepten, Selbsterlösungsritualen, Geräten und Utensilien, die den Pfad zum „höheren Bewusstsein“ beschleunigen helfen.
Die Esoterik hat auch Tausende von Weltenlehrern, spirituellen Meistern und Gurus als Marktschreier in den Warenhäusern hervorgebracht, die nicht nur geistige Harmonie und Gesundheit versprechen, sondern auch die Erleuchtung und das ewige Leben durch Wiedergeburt.
Viele Angebote sind Aberglaube pur. Das scheint die Konsumenten nicht zu stören. Sie mögen keine kritischen Fragen, denn diese könnten die glitzernde Parallelwelt als Illusion entlarven. Für viele sind auch die Alternativ- und Komplementärmedizin eine Art Ersatzreligion, spielen doch bei vielen Methoden auch spirituelle Konzepte eine wichtige Rolle.
Esoterik und Alternativmedizin haben die religiöse Landschaft grundlegend umgepflügt. Die Konsummentalität hat längst auch das Glaubensleben erreicht. Gegen die modernen spirituellen Konzepte sind die Landeskirchen auf verlorenem Posten. Im Christentum muss man hoffen und glauben. Glauben, dass Gott der Erlöser ist, und hoffen, dass das Sündenregister kurz genug ist, um am Jüngsten Tag erlöst zu werden.
Da sind die Esoteriker und spirituellen Sucher in einer komfortableren Situation. Sie müssen nicht nur nicht glauben, sondern sie wissen, wie die geistige Welt beschaffen ist. Das jedenfalls erzählen ihnen ihre Meister und Gurus.
Und diese müssen es scheinbar wissen, denn sie haben angeblich Kontakt zu aufgestiegenen Meistern oder Avataren, die Teil der göttlichen Hierarchie sind und sich in den Dienst der Menschen stellen, indem sie göttliche Wahrheiten übermitteln, nach esoterischer Sprachregelung Channeling genannt.
Schlimmer als der Aberglaube sind Egoismus und Narzissmus, die durch die esoterischen Ideen und Konzepte gezüchtet werden. Denn Esoterik und spirituelle Entwicklung sind Lebensprojekte. Und es geht immer nur um das eigene spirituelle Wohl. Der eigene Bauchnabel wird das Zentrum des Universums.
Esoteriker lassen sich durch nichts davon abbringen, die angebliche Erleuchtung zu erreichen. Klassisches Beispiel sind die vielen Trennungen und Scheidungen, die auf das esoterische Engagement eines Elternteils – zur Mehrheit Frauen – zurückzuführen sind.
Konkret: Protestiert der eine Teil, weil der andere dauernd vor dem Hausaltar meditiert, das Gemüse auspendelt, dauernd zum Guru rennt und unsinnige Ideen vertritt, kommt es meist zu unlösbaren Konflikten. Denn die spirituellen Meister erklären ihren Adepten, ihre Partner blockierten sie mit ihren kritischen Bemerkungen in ihrer spirituellen Entwicklung. Und das bedeute der übersinnliche Tod.
Die «Lösung» ist für Esoteriker klar: Raus aus dieser Beziehung. Unabhängig davon, was dies für die Kinder bedeutet. Schöne neue Glaubenswelt.