Die Corona-Pandemie hat die Gesellschaft aufgewühlt. Viele Systemkritiker radikalisierten sich, wie die Demos zeigten. Das Virus weckte ihre Träume nach grundlegenden Umwälzungen.
Doch dann ging das Licht plötzlich aus. Das öffentliche Interesse an Corona erlosch, ihre Hoffnungen, die Welt zu verändern, schmolzen dahin. Doch aufgeben wollten sie nicht.
Zuerst probten sie mit ihren Organisationen und Gruppen den politischen Marsch durch die Instanzen, verkrachten sich aber heillos. Nun planen viele den Rückzug aus der angeblich dekadenten Schweiz.
Sie planen den Aufbau einer Parallelgesellschaft: Eigene Schulen, eigene Wohn- und Lebensformen, eigene ökonomische Netze, biologische Selbstversorgung, alternative Heilmethoden. Es geht also um die «Erschaffung neuer Lebensbiotope, sei dies im Bereich der regionalen Versorgung, Gesundheit, Bildung und Kultur», wie sie schreiben.
Sie träumen gross, nämlich vom Paradies, wie sie ihre Visionen selbst umschreiben.
Es sind zwei Bewegungen, die den Rückzug aus der Gesellschaft organisieren: Graswurzle und Urig. Die Namen sind Programm. Esoterik und Schollenverbundenheit.
Wo sie politisch stehen, zeigten die Exponenten schon während der akuten Phase der Pandemie: Auf der rechtspopulistischen Seite, garniert mit Verschwörungstheorien, Verfolgungsideen und Esoterik.
Der Aufbau scheint gut organisiert zu sein. Graswurzle hat laut eigenen Angaben bereits gegen 90 Ortsgruppen. Schon mehrere tausend Aktivisten sollen am Aufbau einer Parallelgesellschaft beteiligt sein. Sie sehen sich als Alternative zum Staat.
Urig ist klandestiner unterwegs. Namen und Zahlen nennt die Bewegung nicht. Es sollen sich aber bereits mehrere Dutzend Ortsgruppen gebildet haben. Diese sind dezentral in Vereinen organisiert, Graswurzle wird hingegen zentralistisch geführt.
Die beiden Bewegungen haben die Sektenberatungsstelle Relinfo der reformierten Kirche alarmiert. In einer Mitteilung schreiben zwei Mitarbeiterinnen: «Während die Bewegungen zu Beginn programmatisch eng an die Coronapolitik, Permakultur und Esoterik geknüpft waren, lässt sich nun eine Hinwendung zu gefährlicher Alternativmedizin, Verschwörungsmythen und eigenen Bildungssystemen erkennen.»
Es gehe nicht darum, die bestehenden Verhältnisse zu ändern, vielmehr sollen diese durch die neue Gesellschaft obsolet gemacht werden. Durch das Schaffen neuer Strukturen und Organisationen soll das alte System überwunden werden, schreiben die Relinfo-Mitarbeiterinnen.
Urig will diese Ziele durch ihre Missionstätigkeit und die Schulung der Mitglieder im Aufbau neuer Ortsgruppen erreichen. Das umfangreiche Schulungsprogramm befasst sich auch mit der Schaffung einer neuen Gesellschaft.
Ein wichtiges Instrument sind die geplanten Schulen mit dem neuen Bildungssystem. Wohin die Reise gehen könnte, zeigt sich daran, dass die Corona-Skeptiker und Esoteriker Interesse an den Methoden des russischen Lehrers Michail Schetinin haben.
Die rechtslastige, völkisch-esoterische Siedlungsbewegung Anastasia wendet die umstrittene Pädagogik bereits an. Die beiden Expertinnen von Relinfo warnen, die Schulen würden den Kindern umstrittene Inhalte vermitteln und sie nicht qualifizieren für ein Leben ausserhalb der Parallelgesellschaft.
Eine zentrale Figur bei Graswurzle ist die Urner Primarlehrerin Prisca Würgler. Sie wehrte sich gegen den «Impfzwang», weigerte sich, in der Schule eine Maske zu tragen und wurde entlassen.
Der Rauswurf bestätigte ihre Meinung vom angeblichen totalitären System, mit dem sie nichts mehr zu tun haben wollte. Zusammen mit dem bekannten Corona-Skeptiker und Verleger Christoph Pfluger, der das umstrittene Internetfernsehen «Transition-TV» aufbaute, gründete sie die Graswurzle-Bewegung und amtet seither als Geschäftsführerin.
Der Tenor in den Schriften und Videos der Urig- und Graswurzel-Gruppen ist klar. Es geht um den Kampf gegen die Eliten, die angeblich die Macht an sich reissen und eine neue Weltordnung errichten wollen. Und um das Schaffen einer neuen autonomen und autarken Schweiz.
Graswurzle plant die Herausgabe einer neuen Zeitschrift mit dem hehren Titel «Die Freien». Chefin ist die Graswurzle-Mitgründerin Prisca Würgler.
Auf der Homepage werden bereits die Mitarbeiter genannt. Es ist kaum überraschend, dass bekannte Namen aus der Corona-Skeptiker-Szene und Verschwörungstheoretiker auftauchen. Zum Beispiel Michael Bubendorf, einstiger Sprecher der Freunde der Verfassung.
Dass sich auch der Komiker Andreas Thiel als Autor zur Verfügung stellt, erstaunt schon mehr. Er beklagt sich gern, von den Medien abgekanzelt und diskreditiert zu werden. Doch mit dem Engagement für die Graswurzle-Zeitschrift zeigt er einmal mehr, wie eng er mit der Szene verwurzelt ist. Zum Team der «Freien» gehört auch Daniele Ganser, der Star der deutschsprachigen Verschwörungserzähler.
Die Esoteriker, Querdenker und Verschwörungstheoretiker planen letztlich die Revolution von unten.
Es ist kein Zufall, dass sich ein Teil der Bewegung Graswurzle nennt, erinnert sie doch an die Graswurzel-Bewegung nach der 68er-Revolte. Doch diesmal kommt der subversive Umsturzversuch allerdings von rechts.
Ideen wie Ökologie, Selbstversorgung, neue Lebensformen, Basisdemokratie und neue Pädagogik können durchaus sinnvoll sein, aber nicht, wenn sie von rechtspopulistischen und esoterischen Wutbürgern getragen werden.
Die Aktivisten werden sich vermutlich ähnlich rasch in interne Konflikte verstricken wie die politischen Organisationen der Corona-Skeptiker. Die Aufbruchseuphorie dürfte erlöschen, wenn die Alltagsprobleme beginnen. Denn ein radikaler Ausstieg aus dem System ist eine Illusion.
Dies werden sie bald erkennen: Wenn sie ihren Lebensunterhalt bei einem Arbeitgeber aus dem verhassten System verdienen müssen, wenn sie in der Migros einkaufen, ein neues Handy brauchen, Saatgut kaufen, ein neues Kniegelenk benötigen usw.
Der grösste Stolperstein werden aber die unterschiedlichen persönlichen Bedürfnisse, ideologischen Unterschiede und Ansprüche sein. Denn die neue Bewegung ist so heterogen wie die Szene der Corona-Skeptiker. Und: Die Aktivisten haben nur zwei gemeinsame Nenner: die Ablehnung der Corona-Massnahmen und den Hass auf das politische und gesellschaftliche «System».
Eine schlechte Grundlage für eine Revolution von unten.