Ich sah in diesen Tagen am Strassenrand ein grosses Plakat mit der kurzen biblischen Botschaft «Gott sieht dich.» Der erste Gedanke: Hat dieser Gott Augen?
Nun muss man in Glaubensfragen viele Aussagen, Gebote und Dogmen bildhaft verstehen, also als Gleichnis oder Metapher. Dies bedeutet, dass Gott eine wie auch immer geartete Beziehung zu unserem Planeten und zu uns Menschen pflegt. Und dass sein Interesse an uns Erdenbewohnern so gestaltet ist, dass er uns beobachtet oder kontrolliert.
Im Alten Testament wird er uns so dargestellt: «Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.» (Gen 1,27 EU). Hat er also eine menschliche Gestalt?
Hört man sich im freikirchlichen Milieu um, ist der Fall klar. Die Pastoren sprechen vom barmherzigen, liebenden Vater, der uns führt und beschützt. Sie gehen von einem Übervater aus, der direkt in die Welt wirkt. Viele sind ausserdem überzeugt, Gott sei ihnen schon mehrfach erschienen.
Es ist das Gottesbild, das auch Kinder in sich tragen. In einer Kinderbibel heisst es dann auch: «Viele Menschen nennen Gott daher so, wie er für sie ist, zum Beispiel Vater oder Barmherziger, Schöpfer des Himmels und der Erde, Allmächtiger, Tröster oder der Ewige.»
Und: Gott kam laut Bibel physisch auf die Erde hinunter, um Moses die zehn Gebote zu übergeben. Er hat also viele Attribute, die sehr menschlich wirken. So tritt er in der Bibel unter anderem als Krieger oder zumindest Kämpfer auf, der die Israeliten im Kampf gegen ihre Peiniger unterstützte und schliesslich aus Ägypten führte. Damit rettete er sein Volk.
Weiter warf er die Feinde zu Boden, schnaubte vor Zorn und zückte sein Schwert. Und er tritt als der gute Hirte auf, der die Schafe – sprich Menschen – hütet und beschützt. Er ist auch ein Richter, der am jüngsten Tag seine Herde in den Himmel lotst, die Sünder aber der Verdammnis preisgibt. Gott ist weiter der Zerstörer, der die Städte Sodom und Gomorrha dem Erdboden gleichgemacht hat. In erster Linie nehmen Gläubige ihn aber als den liebenden Vater wahr.
Vor 50 oder 70 Jahren bestand für die meisten Christen kein Zweifel, dass Gott der gütige Beschützer ist, wie ihn die Pfarrer und Pastoren in ihren Sonntagspredigten dargestellt hatten. Doch mit der Aufklärung, der Bildung und den wissenschaftlichen Erkenntnissen bekam das Gottesbild bei vielen Gläubigen tiefe Risse. Das veranlasste den Philosophen Friedrich Nietzsche zur Aussage, der Mensch habe Gott getötet.
Das Bild vom personalen Gott geriet aus den Fugen und passte nicht mehr so recht ins moderne Weltbild. Seither tun sich selbst aufgeschlossene Theologen und Geistliche schwer mit den überlieferten Gottesbildern. Sie pflegen nun ein inneres Bild von Gott und ein religiöses Bewusstsein, das geprägt ist von allen menschlichen Erfahrungen und Sinnen.
Dabei können sie sich ebenfalls auf die Bibel berufen, in der es heisst: «Du sollst dir kein Gottesbildnis machen, das irgendetwas darstellt am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.» (5. Buch Mose)
Doch das ist ein frommer Wunsch. Denn falls es diesen christlichen Gott gibt, der uns erschaffen und mit einem komplexen Hirn ausgestattet hat, ist ihm ein gründlicher Denkfehler unterlaufen. Denn wir Menschen können gar nicht anders, als in Bildern zu denken. Kinder brauchen zwingend Bilder, um ihr Gehirn zu entwickeln. Wir brauchen diese sogar, um das Abstraktionsvermögen zu schulen.
Vom subjektiven Empfinden her spricht also nicht sehr viel für die Idee eines personalen Gottes. Und die Vorstellung der Bibel, dass es irgendwo – vermutlich in den Weiten des Alls – eine Wunderwelt namens Paradies geben soll, ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht plausibel. Das gleiche gilt für die Hölle.
Folglich bleibt noch das Buch der Bücher als möglicher Beweis für die Existenz Gottes. Doch die Quellenlage ist viel zu brüchig, um sich beim Gottesbeweis auf die kanonischen Überlieferungen abzustützen. Denn originale Schriften gibt es praktisch nicht, und mündliche Überlieferungen, Abschriften und Übersetzungen sind keine gesicherten Quellen.
Bleiben noch die Gotteserscheinungen, die die Urchristen, Propheten und viele Fromme angeblich erlebt haben. Diese sind auch nicht beweiskräftig, sind doch Halluzinationen bei religiösen Eiferern keine Seltenheit.
Somit ist es wahrscheinlicher, dass Gott in unserem Kopf entstand. Vieles deutet darauf hin, dass er dort gefangen ist.