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Hast du die Tür geöffnet, als Gott anklopfte?

Gott greift aus der Wolke zum Menschen.
Sucht Gott den Menschen oder der Mensch Gott?Bild: shutterstock.com
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Hast du die Tür geöffnet, als Gott anklopfte? Oder sie ihm vor der Nase zugeschlagen?

Zwei Fragen an die Leserinnen und Leser: Wie bist du zum Glauben gekommen? Oder weshalb mutiertest du zum Skeptiker?
22.06.2020, 09:34
Hugo Stamm
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Wagen wir ein kleines Experiment: Die vielen Kommentare in diesem Blog zeigen, dass Grundsatzfragen in Sachen Religion und Spiritualität auf grosses Interesse stossen. Trotz der wachsenden Säkularisierung. Das Woher und Wohin, Ethik und Moral, Leben und Tod beschäftigen die meisten Menschen – Gläubige wie Skeptiker.

Diese Phänomene polarisieren, wie die grosse Zahl der Kommentare jeweils zeigt. Deshalb möchte ich alle Leserinnen und Leser einladen, ihre persönliche religiöse Sozialisation in der Kommentarspalte mitzuteilen – auch wenn das in 600 Zeichen etwas schwierig sein mag.

Konkret: Welche religiösen Erfahrungen habt ihr gemacht? Gab es ein Erweckungserlebnis oder ein Moment, der euch zum Skeptiker machte? Welche Bedeutung hat der Glaube für euch? Was gibt euch die religiöse Bindung oder die Befreiung von spirituellen Anforderungen?

Ich gebe euch ein Beispiel. Mein Beispiel. Ein paar Gedanken dazu.

Niemand wird als Gläubiger oder Skeptiker geboren. Wie alles im Leben ist auch die Geisteshaltung eine Frage von Erziehung, Bildung und Lebenserfahrung. Deshalb ein kurzer Blick in meine Biographie.

Der deutsche Theologe Joachim Kahl wurde durch das Theologiestudium zum Atheisten:

Meine Mutter war katholisch, mein Vater reformiert. Obwohl wir im reformierten Schaffhausen lebten, wurde ich katholisch getauft. Die Kirche verlangte es so, mein Vater hat es akzeptiert. Er kam jeden Sonntag mit uns in den Gottesdienst. Ich würde behaupten, er war der bessere Katholik als viele andere Kirchengänger.

Ich habe das Gottesbild verinnerlicht, wie es mir der Pfarrer, meine Eltern und die Erwachsenen allgemein vermittelt haben. Ich hatte als Kind keine andere Wahl. Der Geistliche und die Eltern waren Autoritätspersonen, die aus der kindlichen Perspektive allmächtig und allwissend waren. Und nichts als die Wahrheit erzählten.

Als wir die französischen Existenzialisten – Camus, Sartre, Verleine – behandelten, war ich elektrisiert. Ihre Überzeugung, dass wir bestimmungslos in die Welt geworfen worden sind, war für mich eine Offenbarung.

Dann kam das II. Vatikanische Konzil. Ich war damals 13. Die Nachrichten des Schweizer Radios Beromünster brachten unerwartet die Wende. Mischehen seien weiterhin nur dann toleriert, wenn die Kinder katholisch erzogen würden, sagte der Nachrichtensprecher sinngemäss.

Die Botschaft kam bei mir so an: Der wahre Glaube ist nur in der katholischen Kirche zu finden, und der Glaube meiner Mutter zählt offenbar mehr als derjenige meines Vaters. Diese Haltung erschütterte mein Gerechtigkeitsempfinden.

Ich bin damals ein klein wenig gestorben, um wiedergeboren zu werden. Nicht im metaphysischen Sinn, aber im geistigen. Ein Teil meiner religiösen Überzeugung und Hoffnung war abgestorben. Die allmähliche Wiedergeburt bestand darin, dass ich mit neuen Fragen konfrontiert wurde.

Fasziniert von der Philosophie

Die nächste «Erweckung» holte mich in der Mittelschule ein. Unser Deutschlehrer sah seine Aufgabe vor allem darin, uns geistig zu schulen. Literatur war ihm wichtiger als Grammatik. Er riss für mich ein Fenster auf in die faszinierende Welt der Philosophie. Während die meisten meiner Mitschüler gähnten, hing ich an seinen Lippen.

Als wir die französischen Existenzialisten – Camus, Sartre, Verleine – behandelten, war ich elektrisiert. Ihre Überzeugung, dass wir bestimmungslos in die Welt geworfen worden sind, war für mich eine Offenbarung. Denn genau so empfand ich die erbarmungslose Welt und das oft gnadenlose Leben.

Inzwischen war nämlich das Gerechtigkeitsempfinden zu meiner Richtschnur geworden. Ich begann, die Autoritäten zu hinterfragen. Mein Glaube an die Welt der Erwachsenen war brüchig geworden. Aus meiner jugendlichen Sicht begriff ich nicht, wie sie mit den Ungerechtigkeiten leben konnten.

Fünf Möglichkeiten, Gott zu erleben:

Fünf Möglichkeiten, Gott zu erleben.Video: YouTube/GVC Global Video Church GER

Zweifel an Gott

Ich begann daran zu zweifeln, dass Gott der allmächtige, gütige Vater ist, der seine Hand schützend über uns Christen hält. Elend, Armut, Gier und Ungerechtigkeit passten schlecht zum Gottesbild, das mir in Hunderten von Gottesdiensten vermittelt worden war.

Ich hatte zwar gelernt, dass Gott die Wahrheit ist und das Licht, doch ich empfand oft mehr Schatten, wenn ich die Zeitung las.

Mein schleichendes Unbehagen wurde zur Herausforderung für meine Mutter. Ich bedrängte sie mit kritischen Fragen, wir stritten heftig über «Gott und die Welt». Das zwang mich, immer bessere Gegenargumente zu suchen. Diese fand ich in grosser Zahl. Der Glaube säte Zwietracht in unserer Familie.

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Die Überzeugung, dass es die religiöse Wahrheit an sich nicht gibt, veränderte meine Sicht auf die Welt radikal. Ich hatte zwar gelernt, dass Gott die Wahrheit ist und das Licht, doch ich empfand oft mehr Schatten, wenn ich die Nachrichten hörte und Zeitung las.

Akt der Befreiung

Meine geistigen Erfahrungen liessen sich nicht mit den Glaubensbildern im Kopf in Einklang bringen. Ich versank aber nicht in einer Depression, weil mir Gott und der Glaube zu entgleiten drohten. Selbst die Vorstellung, dass das Leben lediglich ein kurzes Gastspiel auf der Erde sein könnte, löste keine Angst aus.

Im Gegenteil: Das Gefühl der Freiheit wirkte erlösend. Mir war, als könnte ich Ballast abwerfen. Nun tat sich der «geistige Himmel» auf. Mein Blick prallte nicht mehr am nächsten Dogma ab, die Gedanken kannten keine Grenzen mehr. Vor allem: Ich wurde viele Schuldgefühle los, die mir durch den Glauben eingeimpft worden waren. Das war befreiend.

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Hugo Stamm; Religionsblogger
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Glaube, Gott oder Gesundbeter – nichts ist ihm heilig: Religions-Blogger und Sekten-Kenner Hugo Stamm befasst sich seit den Siebzigerjahren mit neureligiösen Bewegungen, Sekten, Esoterik, Okkultismus und Scharlatanerie. Er hält Vorträge, schreibt Bücher und berät Betroffene.
Mit seinem Blog bedient Hugo Stamm seit Jahren eine treue Leserschaft mit seinen kritischen Gedanken zu Religion und Seelenfängerei.

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Was Gott sich beim Erschaffen der Tiere gedacht hat
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443 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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RicoH
20.06.2020 09:48registriert Mai 2019
Für mich ist es relativ einfach. Es soll anscheinend einen Gott und eine Wahrheit geben.
Demgegenüber gibt es unzählige Religionen, die unterschiedliche Ansichten darüber haben, was Gott und die Wahrheit bedeuten.
Mein Fazit dazu ist einfach: Gott und die Wahrheit ist ein Menschen gemachtes Konstrukt, das niemals bewiesen und somit individuell ausgelegt werden kann. Dass das Ganze in einer Diskriminierung von anders Gläubigen ausartet, verstört mich zutiefst. Dafür habe ich kein Verständnis und passt auch nicht in mein Weltbild.
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Cleora
20.06.2020 09:52registriert Juni 2020
Ich wurde Skeptikerin, als ich mich als Jugendliche begann für Astrophysik zu interessieren und für das Konzept des Zufalls zu faszinieren. Das Leben und die Ausmasse des Universums sind unglaublich und für uns nicht fassbar, und die Vorstellung dass ausgerechnet der Mensch und sein nach des Menschen Ebenbild geschaffener Gott darin eine mehr als zufällige Rolle wahrnimmt finde ich einfach nur arrogant.
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HeidiW
20.06.2020 09:13registriert Juni 2018
Ich musste mit meinen Bruder in die Sonntagsschule. Da war ich gerade mal sechs Jahre. Da wurden uns die Geschichten von Moses, Noah, Lots Frau etc. etc. erzählt.
Mir war Damals die Brutalität der Geschichten zuwider und ich fragte mich damals schon, warum ein Barmherziger Gott so viele Menschen umbringen kann. Die anderen Kinder fanden die Geschichten toll.

Später so mit 10 sagte mir eine ältere Frau als ich ein Schimpfwort benutzte, ich soll damit aufhören, sonst bestraft mich Gott. Da ich bereits skeptisch war machte ich ein Experiment. Ich beleidigte Gott aufs übelste. Nichts passierte.
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Fuck you, Finn!
Valentina ist verliebt. Nicht in mich. In Finn. Der Loser der Situation: ich.

Valentina war endlich wieder Single. Also, sie war immer Single, aber eine Weile gab's ja neben mir noch einen anderen Typen, Marcel. Dass es Marcel gab, fand ich nicht gut, aber ich durfte es natürlich nicht «nicht gut» finden, weil, Valentina und ich haben ja keine monogame Beziehung, wir haben gar keine Beziehung, was wir beide gut finden, aber wir haben auch nicht nichts, was auch gut ist, aber wenn dann da noch so ein Horst, respektive Marcel, ist, dann ist, was wir haben, natürlich bisschen weniger gut. Aus verschiedenen Gründen. Sie war öfter, wenn ich sie treffen wollte, «busy». Was sie machte, sagte sie nie, musste sie auch nicht, wusste ich eh: Marcel. Sie war auch eher mal «zu müde». Warum, war mir ebenfalls klar. Ich fand die Situation, je länger sie gedauert hat, nicht besser, aber ich habe mich damit abgefunden.

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