Wagen wir ein kleines Experiment: Die vielen Kommentare in diesem Blog zeigen, dass Grundsatzfragen in Sachen Religion und Spiritualität auf grosses Interesse stossen. Trotz der wachsenden Säkularisierung. Das Woher und Wohin, Ethik und Moral, Leben und Tod beschäftigen die meisten Menschen – Gläubige wie Skeptiker.
Diese Phänomene polarisieren, wie die grosse Zahl der Kommentare jeweils zeigt. Deshalb möchte ich alle Leserinnen und Leser einladen, ihre persönliche religiöse Sozialisation in der Kommentarspalte mitzuteilen – auch wenn das in 600 Zeichen etwas schwierig sein mag.
Konkret: Welche religiösen Erfahrungen habt ihr gemacht? Gab es ein Erweckungserlebnis oder ein Moment, der euch zum Skeptiker machte? Welche Bedeutung hat der Glaube für euch? Was gibt euch die religiöse Bindung oder die Befreiung von spirituellen Anforderungen?
Ich gebe euch ein Beispiel. Mein Beispiel. Ein paar Gedanken dazu.
Niemand wird als Gläubiger oder Skeptiker geboren. Wie alles im Leben ist auch die Geisteshaltung eine Frage von Erziehung, Bildung und Lebenserfahrung. Deshalb ein kurzer Blick in meine Biographie.
Meine Mutter war katholisch, mein Vater reformiert. Obwohl wir im reformierten Schaffhausen lebten, wurde ich katholisch getauft. Die Kirche verlangte es so, mein Vater hat es akzeptiert. Er kam jeden Sonntag mit uns in den Gottesdienst. Ich würde behaupten, er war der bessere Katholik als viele andere Kirchengänger.
Ich habe das Gottesbild verinnerlicht, wie es mir der Pfarrer, meine Eltern und die Erwachsenen allgemein vermittelt haben. Ich hatte als Kind keine andere Wahl. Der Geistliche und die Eltern waren Autoritätspersonen, die aus der kindlichen Perspektive allmächtig und allwissend waren. Und nichts als die Wahrheit erzählten.
Dann kam das II. Vatikanische Konzil. Ich war damals 13. Die Nachrichten des Schweizer Radios Beromünster brachten unerwartet die Wende. Mischehen seien weiterhin nur dann toleriert, wenn die Kinder katholisch erzogen würden, sagte der Nachrichtensprecher sinngemäss.
Die Botschaft kam bei mir so an: Der wahre Glaube ist nur in der katholischen Kirche zu finden, und der Glaube meiner Mutter zählt offenbar mehr als derjenige meines Vaters. Diese Haltung erschütterte mein Gerechtigkeitsempfinden.
Ich bin damals ein klein wenig gestorben, um wiedergeboren zu werden. Nicht im metaphysischen Sinn, aber im geistigen. Ein Teil meiner religiösen Überzeugung und Hoffnung war abgestorben. Die allmähliche Wiedergeburt bestand darin, dass ich mit neuen Fragen konfrontiert wurde.
Die nächste «Erweckung» holte mich in der Mittelschule ein. Unser Deutschlehrer sah seine Aufgabe vor allem darin, uns geistig zu schulen. Literatur war ihm wichtiger als Grammatik. Er riss für mich ein Fenster auf in die faszinierende Welt der Philosophie. Während die meisten meiner Mitschüler gähnten, hing ich an seinen Lippen.
Als wir die französischen Existenzialisten – Camus, Sartre, Verleine – behandelten, war ich elektrisiert. Ihre Überzeugung, dass wir bestimmungslos in die Welt geworfen worden sind, war für mich eine Offenbarung. Denn genau so empfand ich die erbarmungslose Welt und das oft gnadenlose Leben.
Inzwischen war nämlich das Gerechtigkeitsempfinden zu meiner Richtschnur geworden. Ich begann, die Autoritäten zu hinterfragen. Mein Glaube an die Welt der Erwachsenen war brüchig geworden. Aus meiner jugendlichen Sicht begriff ich nicht, wie sie mit den Ungerechtigkeiten leben konnten.
Ich begann daran zu zweifeln, dass Gott der allmächtige, gütige Vater ist, der seine Hand schützend über uns Christen hält. Elend, Armut, Gier und Ungerechtigkeit passten schlecht zum Gottesbild, das mir in Hunderten von Gottesdiensten vermittelt worden war.
Mein schleichendes Unbehagen wurde zur Herausforderung für meine Mutter. Ich bedrängte sie mit kritischen Fragen, wir stritten heftig über «Gott und die Welt». Das zwang mich, immer bessere Gegenargumente zu suchen. Diese fand ich in grosser Zahl. Der Glaube säte Zwietracht in unserer Familie.
Die Überzeugung, dass es die religiöse Wahrheit an sich nicht gibt, veränderte meine Sicht auf die Welt radikal. Ich hatte zwar gelernt, dass Gott die Wahrheit ist und das Licht, doch ich empfand oft mehr Schatten, wenn ich die Nachrichten hörte und Zeitung las.
Meine geistigen Erfahrungen liessen sich nicht mit den Glaubensbildern im Kopf in Einklang bringen. Ich versank aber nicht in einer Depression, weil mir Gott und der Glaube zu entgleiten drohten. Selbst die Vorstellung, dass das Leben lediglich ein kurzes Gastspiel auf der Erde sein könnte, löste keine Angst aus.
Im Gegenteil: Das Gefühl der Freiheit wirkte erlösend. Mir war, als könnte ich Ballast abwerfen. Nun tat sich der «geistige Himmel» auf. Mein Blick prallte nicht mehr am nächsten Dogma ab, die Gedanken kannten keine Grenzen mehr. Vor allem: Ich wurde viele Schuldgefühle los, die mir durch den Glauben eingeimpft worden waren. Das war befreiend.