In Glaubensfragen gibt es keine Wahrheit. Beim Glauben bewegen wir uns auf dem Feld der Annahmen. Sogar bei der Gretchenfrage nach Gott tappen wir im Dunkeln. Milliarden Menschen glauben an die Existenz eines irgendwie gearteten Gottes. Doch es bleibt ein Glaube. Gewissheit gibt es nur bei einem Phänomen: Wir alle müssen sterben. Ob mit Gott oder ohne.
Doch eine Gewissheit scheinen Gläubige zu haben: Mit Gott lebt es sich leichter. Und mit ihm stirbt es sich ruhiger. So jedenfalls wird es uns Menschen seit je eingetrichtert. Und (fast) alle glauben es, Gläubige wie Skeptiker.
Die PR-Maschine der Religionen und Glaubensgemeinschaften hat ganze Arbeit geleistet. Frei nach dem Motto: Selbst wenn es keine religiöse Gewissheiten geben sollte, so macht der Glaube an Gott die Menschen glücklicher und hoffnungsvoller. Die Botschaft dahinter: Der Glaube lohnt sich in jedem Fall.
Doch stimmt diese Gleichung wirklich? Oder sind wir Opfer einer jahrhundertelangen erfolgreichen Image-Kampagne geworden? Oder ist der Glaube, dass Religion glücklich macht, eine Beruhigungspille mit erheblichen Nebenwirkungen?
Die Glaubenshüter und Apologeten zitieren bei ihren Missionsfeldzügen gerne Studien, die den mentalen Nutzen des Glaubens belegen sollen. Doch nun zeigen neue Untersuchungen, dass diese Aussagen mit Vorsicht zu geniessen sind.
Der Psychologe Gabriele Prati von der Universität Bologna präsentierte kürzlich im Fachjournal «Psychology of Religion and Spirituality» eine Studie, in der er nachweist, dass der direkte Effekt von Religiosität für das Wohlbefinden keine praktische Relevanz hat, wie der «Tages-Anzeiger» schreibt.
Der Wissenschaftler wertete unzählige internationale Studien aus und analysierte die Datensätze von fast 650’000 Probanden aus 115 Ländern, die zwischen 1981 und 2021 in regelmässigen Abständen befragt wurden.
Die Auswertung ergab zwar, dass sich ein positiver Effekt von Religiosität auf die generelle Lebenszufriedenheit und das Glücksempfinden nachweisen lässt. Doch dieser Effekt sei winzig und vermutlich von lebenspraktischer Irrelevanz.
Im Vergleich dazu sei der Einfluss von Einkommen auf die Lebenszufriedenheit sowie auf das Glücksempfinden um 150 beziehungsweise 130 Prozent grösser als der entsprechende Effekt von Religiosität.
Es stellt sich deshalb die Frage, weshalb immer mehr Menschen den Kirchen den Rücken kehren, wenn doch der Glaube Zufriedenheit und Glücklichsein stärken würden, wie Glaubensgemeinschaften und Geistliche unermüdlich predigen? Sind skeptische Personen so blöd, dass sie Perlen vor die Säue werfen, statt sie aufzuheben und zu sammeln?
Ich behaupte, dass Gläubige im Schnitt ängstlicher sind als Skeptiker und deshalb Halt bei Gott suchen. Viele Mitglieder von Religionsgemeinschaften suchen im Glauben nicht primär das Glück, sondern sondern benutzen sie als Rückversicherung.
Sie suchen Sicherheit und Geborgenheit, weil sie Existenzängste haben. Der Glaube soll ihnen auch ein Stück weit die Angst vor dem Tod nehmen. Vor allem aber klammern sie sich an das Versprechen der Religionsführer, ein Leben nach dem Tod zu bekommen.
Atheisten, Agnostiker oder Skeptiker haben hingegen gelernt, mit solchen Existenzängsten umzugehen und den Weg in die geistige Freiheit zu gehen. Sie brauchen keinen Gott, der sie vermeintlich an der Hand nimmt und durch die Stürme des Lebens führt.
Es ist auch ein Ammenmärchen, dass Gläubige weniger Angst vor dem Tod haben als areligiöse Menschen. Eine Pflegefachfrau, die seit vielen Jahren auf der Onkologie-Station eines grossen Spitals arbeitet, bestätigte meine Vermutung. Im Schnitt würden sich Ungläubige leichter mit dem Schicksal arrangieren und dem Tod mutiger entgegenblicken als Gläubige, sagte sie.
Ausserdem kann der Glaube an sich Ängste auslösen. Dabei geht es in erster Linie um die Angst vor der Strafe Gottes. Gläubige leben stets in der Ungewissheit, ob sie beim Jüngsten Gericht bestehen oder ob ihr Sündenregister zu lang ist.
Ich mache als Präsident der Geschäftsprüfungskommission der Sterbehilfeorganisation Exit eine ähnliche Erfahrung. Bei der Kontrolle der Akten stelle ich fest, dass die meisten Sterbewilligen areligiös sind oder ihren Glauben nicht mehr praktizieren. Sie wollen in Würde und selbstbestimmt sterben, wenn sie ein unerträgliches Leiden oder eine tödliche Krankheit haben.
Es braucht viel Mut, diesen Schritt zu gehen. Für sie ist es eine Frage der Selbstverantwortung. Sie brauchen keinen Pfarrer oder Gott, wenn es um die Frage des eigenen Todes geht. Sie müssen auch keine Angst vor dem Jüngsten Gericht haben, weil sie akzeptieren können, dass der Tod das endgültige Ende des Lebens ist.