Kaum ein Genre entwickelte sich in den Neunzigern derart rasant wie das der Ego-Shooter: Vom «Doom»-Urknall 1993 bis zum erzählenden Action-Erfolg «Half-Life» 1998 vergingen gerade einmal fünf Jahre. Der Softwares Shooter-Startschuss setzte auf damals wegbereitende Technik und schnelle Feuerwechsel, Valves Science-Fiction-Ballerei dagegen verknüpfte bereits Action mit Rätseln und einer im Spiel präsentierten Geschichte.
Es gibt wenige Titel, die meinen Geschmack und meine Liebe zu diesem Medium derart geprägt haben wie «Doom» und «Half-Life». Die intensiveren Erinnerungen habe ich dennoch an Gordon Freemans Odyssee durch die Forschungsstation Black Mesa und alles, was damit zusammenhing. «Half-Life» war ein Augenöffner – technisch eindrucksvoll, spielerisch fordernd und erzählerisch so dicht an einem Hollywood-Film, wie man es bis dato in keinem Shooter gesehen hatte.
Doch seitdem sind über 20 Jahre vergangen. Zwei Dekaden, in denen Titel und Serien wie «Halo», «Metro», «Bioshock», «Wolfenstein», «Far Cry» oder «Call of Duty» die Vormachtstellung übernommen haben. «Half-Life» aber legte für erzählende Shooter den Grundstein und führte das damals noch junge Unternehmen Valve an die Spitze. Über 50 Game-of-the-Year-Auszeichnungen und eine Metacritic-Bewertung von 96 machen das Abenteuer zu einem der besten Spiele aller Zeiten.
Wieso «Half-Life» so erfolgreich war? Weil es Dinge anders machte als bisherige Vertreter des Genres. Valve-Boss Gabe Newell erklärte in Interviews, dass «Half-Life» Valves Antwort auf die Trivialisierung der First-Person-Games dieser Zeit war.
Als Inspiration diente seinem Team Stephen Kings «Der Nebel» (im Original: «The Mist»), das inzwischen auch mit einer durchwachsenen und nach einer Staffel beendeten Netflix-Serie bedacht wurde. Im Gegensatz zu «Doom» oder auch dem 1996 erschienen «Duke Nukem 3D» ist die Geschichte dominant und wurde direkt in die Spielwelt eingebaut.
Die Orignal-Version so viele Jahre später auf einem natürlich deutlich flotteren Rechner als damals zu starten, fühlt sich merkwürdig an: Erstmal die Auflösung hochdrehen, das Seitenverhältnis auf «Breitwand» einstellen und dann noch einen Blick in die Tastenkommandos werfen.
Doch dann hat mich «Half-Life» wieder. Die Zugfahrt durch Black Mesa mitsamt der Erklärung der Station und den vielen kleinen Details gehört bis heute zu meinen liebsten, ersten Minuten in Videospielen. Spätestens wenn mich der Wachmann mit «Guten Morgen, Gordon. Spät dran heute» begrüsst, ist es ein bisschen wie nach Hause kommen.
Den erzählerischen Ansatz erkennt man auch über 20 Jahre später noch. «Half-Life» lässt sich Zeit. In den ersten Minuten geniesse ich ein wenig den Laboralltag. Die Zwischentöne hier fallen mir jetzt natürlich mehr auf als damals. Auch der mysteriöse G-Man fällt mir diesmal direkt auf. Eins wird zu Beginn sehr stark betont: Hauptfigur Gordon Freeman ist kein Soldat. Er ist ein Wissenschaftler.
Die von Autor Marc Laidlaw geschriebene Geschichte vermischt klassische Grusel-Tropen mit ein wenig Verschwörungsspektakel im Hintergrund. Ein (scheinbar) fehlgeschlagenes Experiment öffnet ein Tor in die Dimension Xen. Aus dieser dringen unzählige Alien-Kreaturen in die Station, meucheln Mitarbeiter und sorgen für Chaos. Der mit seinem Schutzanzug ausgerüstete Freeman entkommt der Katastrophe. Es gibt keinen klassischen Erzähler oder externe Zwischensequenzen. Gordon Freeman erlebt das, was ich spiele.
«Half-Life» erzählt seine Geschichte mit geskripteten Momenten: Da werden etwa andere Wissenschaftler von den aus «Alien» entlehnten Headcrabs angegriffen oder wir beobachten, wie Sicherheitspersonal gegen die Eindringlinge kämpft. Die erste Waffe im Spiel ist aber keine Pistole, sondern das charakteristische Brecheisen. Mit diesem verhaut Gordon Gegner auf kurze Distanz, kann aber auch Glasscheiben einschlagen oder Kisten damit zerstören. Die Möglichkeiten der Interaktion waren in «Half-Life» bahnbrechend und funktionieren auch heute noch ordentlich.
Gleiches gilt für das Action-Gameplay: Sieht man einmal von der inzwischen arg in die Jahre gekommenen Grafik und der teils knarzigen Sprachausgabe ab, macht «Half-Life» noch eine gute Figur. Vor allem auch, weil die Abwechslung stimmt! Ärgere ich mich anfangs noch mit kleineren Aliens wie den rasend schnellen Headcrabs oder den lahmen Zombies herum, kommt später das Militär dazu. Wichtig: Beide Fraktionen agieren anders: Soldaten gehen in Deckung, Monster attackieren meist direkt. Moderne Shooter bieten in der Regel nur geringfügig mehr.
Und so fordert mich «Half-Life» auch heute noch. Ich bin überrascht, wie ordentlich sich ein dreiundzwanzig Jahre alter Shooter spielt. Da hätte ich wirklich weitaus Schlimmeres erwartet. Allerdings spielt «Half-Life» auch seine Einfachheit in die Karten: Keine Bonus-Fähigkeiten, kein Skill-Tree, kein unnötiger Schnickschnack. Einfach nur Primär- und Sekundärfeuer. Das war's!
Nein, mit einer Sache bin ich damals schon nicht warm geworden und werde es auch im Jahr 2021 nicht: mit den Geschicklichkeitseinlagen. Von einer eingestürzten Brücke auf ein Belüftungsrohr hüpfen und von dort aus über einen Abgrund balancieren – das funktioniert, aber erfordert ruhige Finger an Maus und Tastatur. Von der Dimension Xen will ich an dieser Stelle gar nicht erst anfangen.
Die dortigen Sprungeinlagen mit Hilfe von Alien-Trampolinen und verringerter Schwerkraft trieben mich damals wie heute in den Wahnsinn. Bei meinem ersten Anlauf sorgte diese Passage dafür, dass ich das Spiel über Monate weg legte und später beendete. Heute habe ich durchgehalten, aber nur mit viel Geschimpfe und dank «Dark Souls» erprobter Frustresistenz.
Trotzdem muss ich «Half-Life» eins zugutehalten: Es bietet ein ausgesprochen variables Gameplay, baut erste physik- und logikbasierte Rätsel ein und schafft so eine Menge Abwechslung. Dieser Ansatz tut dem Spiel heute noch gut, auch wenn nicht alles perfekt ist!
Die Antwort ist klar und eindeutig: Ja! Natürlich ist die Technik inzwischen veraltet und Faktoren wie Steuerung oder Waffen-Feedback kennt man heutzutage besser. Das ändert aber nichts daran, dass viele der hier angebotenen Konzepte absolut zeitlos sind. Das beginnt bei der Erzählstruktur durch geskriptete Ereignisse und endet schliesslich bei dem herrlich dreidimensionalen Gameplay.
Ich hatte Angst, «Half-Life» nach vielen Jahren noch einmal zu spielen. Schliesslich kann man sich so auch eine Menge wohliger Erinnerungen zerstören. Aber das geschah nicht und stattdessen hockte ich wieder vollkommen gebannt vor dem Bildschirm und kämpfte, hüpfte und rätselte mich durch diese fantastische Welt und ihre Geschichte.
An der Stelle sei aber gesagt: Für alle, die diesen Kulturschock nicht eingehen möchte, gibt es auch das Remake «Black Mesa» mit zeitgemässerer Technik. In diesem Sinne, rein in den Mark IV HEV-Anzug und ran an die Brechstange – es wartet eine Menge Arbeit!