Die industrielle Revolution hat in Europa keinen Stein auf dem anderen gelassen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Auf dem Weg von der Agrargesellschaft zum modernen Industriestaat veränderte sich das Erscheinungsbild von Landschaft und Städten radikal. Der Wandel forderte von Natur und Menschen immense Opfer, sorgte vielerorts aber auch für Wohlstand und ein demokratisches Gemeinwesen.
Bahnbrechende Erfindungen wie Dampfmaschinen oder Luftschiffe entstanden in dieser Zeit, ebenso wie grosse Kunstwerke und architektonische Meisterleistungen. Zu letzteren zählt zweifellos die Hamburger Speicherstadt, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge des Zollanschlusses der Hansestadt an das Deutsche Reich gebaut wurde.
In «Anno 1800» kann man diese bewegte Epoche nacherleben. Man kann seine eigene Gründerzeitmetropole errichten, nach dem jüngsten Erweiterung inklusive des jedes Jahr von Millionen Touristen besuchten monumentalen Hamburger Bauwerks. Die verantwortlichen Entwickler von Ubisoft Mainz sind Experten darin, Spieler in vergangene Zeiten eintauchen zu lassen. Laut dem verantwortlichen Lead Game Designer bei Ubisoft Mainz, Volker Sassen, lag die Wahl der Speicherstadt als DLC für «Anno» nah. «Da ich selbst Nordlicht bin und mein Bruder in der Hansestadt lebt, ist die Hamburger Speicherstadt für mich eine Herzensangelegenheit. Als wir uns überlegt haben, welchen neuen Content wir kreieren könnten, dachten wir sofort, dass sich dieses fantastische Gebäude, dieser riesige Komplex auch von der Zeit her perfekt eignen würde.»
In der Realität musste dem 1,5 Kilometer langen Wunderwerk ein ganzer Stadtteil weichen. Das von Fleeten durchzogene alte Hafenviertel, das man sich in etwa so malerisch vorstellen muss wie die Altstadt von Amsterdam, wurde dem Erdboden gleichgemacht. 24'000 Menschen wurden zwangsumgesiedelt. Mit teilweise drastischen Folgen. Die städtischen Elendsviertel platzten aus allen Nähten, Seuchen breiten sich aus. Ganz so dramatisch sind die Opfer, die man im Spiel bringen muss, freilich nicht.
«Negative Auswirkungen des industriellen Fortschritts sind auch in unserem Spiel spürbar, etwa die durch die Massenproduktion verursachte Umweltverschmutzung», erklärt Stefan Böhne, Sprecher von Ubisoft Mainz. Doch Themen wie Imperialismus, Kolonialismus, Ausbeutung und Sklaverei kommen im «Anno»-Universum allenfalls in Nebenhandlungssträngen innerhalb der Kampagne zur Sprache. «Unsere Spiele sind immer ein bisschen light hearted und liefern eine etwas romantisierende Darstellung historischer Zusammenhänge. Für viele sind sie eben ein Ort, wo man sich bis zu einem gewissen Grad dem Eskapismus hingeben kann.»
Als die Hafenstadt am 29. Oktober 1888 ihrer Bestimmung übergeben wird, ist sie der zweitgrösste Hafen Europas, nur übertroffen von London. Die Hamburger sind vor allem durch den Handel mit Übersee reich geworden. Kaffee, Tabak, Kakao, Baumwolle und Kautschuk kommen aus Süd- und Mittelamerika ins Land, und zwar weitgehend ohne Abgaben. Auch im Spiel öffnet sich mit dem neuen Bauwerk eine riesige Palette an Gütern, die nicht oder nur schwer in eigenen Handelsketten hergestellt werden können, wie Rum oder Bananen.
In der Realität drängte Reichskanzler Bismarcks darauf, dass sich Hamburg dem deutschen Zollgebiet anschliessen solle, was die hiesigen Kaufleute aus naheliegenden Gründen vehement ablehnten. Der Kompromiss nach zähem Ringen: Hamburg tritt zwar dem Zollgebiet bei, behält aber eine autonome Freihandelszone. Dafür schiesst das Reich 40 Millionen Mark – heute wären das rund 555 Millionen Schweizer Franken – für den Bau eines Lagerhauskomplexes zu. Am Ende wird das gesamte Bauvorhaben 113 Millionen Mark verschlingen.
Kein Material ist typischer für das alte Hamburg als Backstein. Er bestimmt das Aussenbild der Speicherstadt, doch das Innenleben hinter der roten Fassade ist hochmodern. Ein Stahlskelett aus Eisenträgern, zusammengesetzt aus Fertigbauteilen, erlaubt ein rasches Fortschreiten des Baus. Nicht ganz so schnell wie man die Module in «Anno 1800» aneinanderreiht, aber doch schnell genug, damit Kaiser Wilhelm II. den ersten, 600 Meter langen Abschnitt fristgerecht einweihen kann. Neun Gebäudeblöcke sind in nur drei Jahren entstanden. Auch der clevere Aufbau spiegelt sich auch im Spiel wider: Auf einer Seite der Speichergebäude liegt ein Kanal zur Anlieferung der Waren. Mit Druckwasser betriebene Winden schaffen grosse Packen in die oberen Stockwerke. Auf der Strassenseite liegen die Erdgeschosse etwas erhöht auf einem Niveau, von dem aus Eisenbahnwagons und Pferdekutschen bequem beladen werden können.
Für das gesamte Erscheinungsbild inklusive der reichen Verzierungen mit Sandsteinfresken und -figuren, Erkern und Ziergiebeln wurde von den Concept Artists bei Ubisoft Mainz aufgrund von Fotos, Bauplänen und zeitgenössischen Grafiken rekonstruiert. Und natürlich, ganz neuzeitlich, mithilfe intensiver Internetrecherche. «Als erstes skribbeln wir unsere Ideen, wie der neue Content aussehen könnte. Dann entscheiden wir uns irgendwann, was uns gefällt, und es wird konkreter», beschreibt Lead Artist Tim Witprächtiger den Entstehungsprozess. «Dann fängt ein 3D-Artist mit der groben Gestaltung an, wir sagen block out dazu. Damit können wir neue Elemente frühzeitig im Spiel testen und sehen, wie sich das Ganze in die Anno-Welt einfügt. Danach wird auf Concept Art-Seite ein finales Artwork mit allen Details erstellt.»
Die historischen Referenzen und realen Vorbilder müssen sich also stets dem grossen Ganzen des Spiels unterordnen. Wie jedes Abbild der Realität sind alle «Anno»-Inhalte eine Interpretation der Wirklichkeit. «Wir ziehen uns aus dem Material einzelne interessante oder ikonische Elemente heraus, die wir adaptieren», so der künstlerische Leiter. «Die Lesbarkeit ist dabei ein entscheidender Faktor, das heisst, der Spieler muss das Gebäude klar erkennen können. Aber am Ende schauen wir natürlich immer, wie die Spielregeln sind und welche Funktion das Gebäude darin hat.» Die beteiligten Entwicklerteams müssen sich daher immer wieder abstimmen, der Prozess besteht aus vielen unterschiedlichen Schritten. «Es dauert seine Zeit, bis wir von der Idee bis zum finalen Gebäude gekommen sind, wie es im Spiel zu sehen ist. Denn dazu gehören auch die passenden Animationen, Texturen, Effekte und so weiter. Das alles muss am Ende ein stimmiges Ganzes ergeben.»
Im konkreten Fall der Speicherstadt dauerte die gesamte Entwicklung von Ende Oktober des vergangenen Jahres bis zum Release Ende Februar. Laut Ubisoft-Sprecher Stefan Böhne waren knapp 50 Leute daran beteiligt. Die meisten davon, kaum überraschend, in der Grafikabteilung. Nun liegt der Ball wieder bei den Spielern, die das neue Bauwerk nun möglichst kunstvoll in ihre individuellen Spielwelten einfügen müssen.
Volker Sassen hat diesbezüglich wenig Mitleid mit den «Anno»-Fans. «Es war der ausdrückliche Wunsch der Community, mehr Gestaltungsmöglichkeiten bei den Häfen zu bekommen. Einige haben ja tatsächlich sehr grosse Häfen, bei denen es darum geht, die Baufläche voll auszureizen und einen maximalen Ertrag herauszuholen.» So mancher Perfektionist oder «Schönbauer» werde wohl jetzt anfangen, massiv umzubauen oder gleich neu zu planen. «Da kommt auf den einen oder anderen Spieler einiges an Umbauarbeit zu. Aber das macht ja auch den Spass aus, so ein bisschen herumzupuzzeln und zu schauen, wo man Altes abreissen und durch Neues ersetzen kann. Das ist auch ein Anreiz und durchaus erwünscht.»
Da es mit ausserhäuslichen Aktivitäten gerade nicht so weit her ist, dürfte manch einem die zeitintensive Herausforderung tatsächlich gelegen kommen. «Wir haben viele Spieler, bei denen mehrere hundert Stunden Spielzeit zusammenkommen. Ich glaube, wir haben inzwischen sogar ein paar, die haben die 1000er Marke geknackt», so Stefan Böhne. Natürlich müsse jeder selbst wissen, wie viel Zeit er investiert. «Aber wenn man daheim sitzt und sowieso nicht viel anderes machen kann, dann sind Games sicherlich eine schöne Abwechslung, ganz besonders solche, bei denen man wie bei unserem kreativ sein und einfach mal in eine andere Welt entfliehen kann.»