Chia-Samen, Acai-Beeren, Reis oder Quinoa – auf Charlotte’s Speiseplan kommt nur, was gesund ist. Alles vermeintlich Ungesunde wie Fett, Fleisch, Zucker, Alkohol oder Kaffee ist verdammt. Bedacht kocht sich die 21-jährige KV-Lehrtochter aus dem Kanton Genf ihre Menüs vor, geht ins Fitness und lehnt Treffen unter der Woche stets ab, damit sie genug Schlaf kriegt. Auch das Meditieren gehört für sie zum Alltag. Für ihren Lifestyle wird sie rege gelobt. «Bravo, wie gesund du lebst», sagen ihr die Leute, «Ich bewundere dich», schreiben sie auf den sozialen Medien.
Charlotte entspricht dem heutigen Ideal: Gesund essen, gesund leben, so will es der aktuelle Körperkult. Was nur wenige wissen: Charlotte ist krank. Die gesunde Ernährung wurde für sie zum Zwang.
Stundenlang bereitet sie sonntags ihre Lunchboxen für die Woche vor, sorgfältig achtet sie darauf, dabei kein Salz oder Öl zu verwenden In die Pfanne kommt hauptsächlich Gemüse oder Reis, als Beilage tun es Nüsse und Früchte. Charlottes Ernährung ist zudem ausschliesslich vegan. Die Inspiration für ihre gesunden Speisen holt sie sich auf Instagram, mit Hashtags wie eatclean, plantbased oder acaibowl finden sich Millionen Bilder und Rezepte. Auf YouTube schaut sie stundenlang Videos von Foodbloggern an, schreibt auf, welche Nahrungsmittel sie angeblich zu sich nehmen soll, um ihr Krebsrisiko zu vermindern oder um schönere Haare zu kriegen. Charlotte: «Foodblogger sind meine Bibel!»
Dass Charlotte krank ist, sieht man ihr nicht an. In ihrer Jugend litt sie an Magersucht, nun aber ist sie normalgewichtig. Für einen Laien ist es schwierig, ihre Essenstörung, die man Orthorexie nennt, zu erkennen: Sie hat panische Angst davor, krank zu werden, sollte sie sich nicht gesund genug ernähren. Charlotte: «Das erzählt man uns ja überall! In der Werbung, aber auch in der Gesellschaft selbst. »Wichtig ist ihr auch der ästhetische Aspekt: Wegen der falschen Ernährung könne man Pickel oder stumpfe Haare bekommen oder schneller altern.
Hat Charlotte mal kein von ihr selbst vorbereitetes Menü oder Rohkost dabei, hungert sie lieber als etwas anderes zu sich zu nehmen. In einem Restaurant kriegte sie schon lange keinen Bissen mehr runter. Zu schwierig sei es für sie, jemand anderem die Kontrolle über ihre Ernährung zu überlassen. Ihre Gedanken kreisen den ganzen Tag um einen gesunden Speiseplan und auch ihre Freizeit ist dem Wahn gewidmet, der sie so von ihrem Umfeld isolierte.
Eines Tages wurde Charlotte alles zu viel. Sie entschied sich, Hilfe zu suchen. Seither besucht sie regelmässig das Centre de Consultations Nutrition et Psychotherapie (zu Deutsch: Institut für Ernährung und Psychotherapie) in Genf. Behandelnder Arzt und Experte auf dem Gebiet ist Alain Perroud. Perroud: «Es gibt zwar keine genauen Zahlen, aber zu uns kommen immer mehr Patienten, die an Orthorexie leiden», sagt dieser. Er ist überzeugt, dass es bei dieser Essstörung in der Gesellschaft eine hohe Dunkelziffer gibt. «Schuld daran ist besonders die übertriebene Prävention, die in Bezug auf eine gesunde Ernährung betrieben wird.» Diese würde, so der Arzt, wohl nur in geringem Masse gegen Übergewicht helfen, hingegen Essstörungen fördern. «Eine Rolle haben ausserdem wohl auch die Lebensmittelskandale gespielt, die in den vergangenen Jahren in den Medien prominent thematisiert wurden.»
In der Schweiz ist Orthorexie noch weitgehend unbekannt. Doch klar ist, es achten auffällig viele Menschen extrem darauf, was sie essen. Das Bundesamt für Gesundheit hat bereits 2010 eine repräsentative Umfrage zur Häufigkeit von Essstörungen durchgeführt. Fast jede dritte befragte Person gab damals an, sich übermässig mit gesundheitsfördernder Ernährung zu beschäftigen, gesunde Nahrungsmittel zu wählen, ungesunde zu vermeiden und strikte Ernährungsregeln zu befolgen.
Aber was ist noch gesund, was krankhaft? Die Differenzierung fällt nicht immer leicht. Perroud: «Man spricht von Orthorexie, wenn die Patienten stark unter dem Druck gesund zu essen leiden. Sie investieren enorm viel Zeit in ihre Ernährung, sei es zum überlegen, vorbereiten oder essen.» Die Definition dessen, was «gesund» ist, werde bei der Orthorexie von den Betroffenen zudem immer enger gefasst und könne schliesslich extreme Formen annehmen.
Der zweite Faktor, so Perroud, sei gegeben, wenn der Patient sich für sein Verhalten schämt, der dritte, wenn Mangelerscheinungen auftreten. An Orthorexie zu sterben, sei selten. Doch die Auswirkungen auf den Körper, die die stark eingeschränkte Ernährung haben kann, sind doch besorgniserregend: Mangel an Vitamin B12, Omega 3, essentiellen Aminosäuren und weiteres.
Im Gegensatz zu anderen Essstörungen sei etwa die Hälfte seiner Patienten männlich, so Perroud und «mehrheitlich sehr ängstlich und angespannt mit einem grosses Gefühl der Eigenverantwortung.» Eine interne Auswertung des Genfer Zentrums zeigt weiter, dass die betroffenen Patienten mit einem Durchschnittsalter von 32 eher jung sind.
Therapiert werden die Patienten auf drei verschiedenen Ebenen. «Einerseits versuchen wir, den übertriebenen Angst-Gedanken entgegenzuwirken.» Sein Credo: «Fakt ist, viele Leute achten bei ihrer Ernährung auf nichts besonderes und bleiben gesund.» Weiter gehe es darum, dem Patienten zu helfen, die Verantwortung in Bezug auf jeden Aspekt eines Nahrungsmittel loszulassen. Schlussendlich soll sich der Patient in enger Zusammenarbeit mit einem Ernährungsberater wieder an die vermeintlich verbotenen Nahrungsmittel herantasten.
Das probiert Charlotte jetzt. Denn ausgewogen ist ihre Ernährung nicht. «Ich esse oft dasselbe. Bei vielem bin ich mir halt nicht sicher, ob das wirklich gesund ist – dann lass ich es.» Auch Pasta oder Brot sind ihr zuwider, da es sich um verarbeitete Produkte handelt. Greift sie trotzdem mal zu einem Stück Brot, weil es mit ihrer Therapeutin so abgemacht ist, endet das oft in einer Fressattacke. «Danach fühle ich mich dreckig und will nur noch, dass das alles aus meinem Körper verschwindet.»
Glücklich ist sie durch das restriktive Essen nicht geworden. Jede Speise von A bis Z selbst zuzubereiten, nimmt Zeit in Anspruch. Und das Essen ist für sie auch nicht mehr ein Genuss, sondern nur noch Zwang. «Ich denke ständig daran und widme meine ganze Zeit der Ernährung – ein soziales Leben habe ich nicht mehr wirklich.»
Sie prangert die Gesellschaft und die Wirtschaft an: «Für die Nahrungsmittel-Unternehmen ist der Food-Wahn natürlich zu einem riesigen Geschäft geworden. Vor ein paar Jahren waren wir voll im Fitness-Wahn, jetzt muss alles gesund sein.» Schwierig sei dies besonders auch, weil ihr «healthy» Lifestyle so oft auf positives Feedback stosse. «Die Leute wissen noch zu wenig über die Krankheit, dass ich leide, sehen sie nicht.»