Frankreich ist Weltmeister. Weil es Tugenden verkörpert hat, aus denen Weltmeister gemacht sind. Nervenstärke, Cleverness, und Qualität – aber auch eine Portion Unfairness.
Während Kroatien als Stehaufmännchen in den Final gestürmt ist, war Frankreichs Finaleinzug eine Folge der Abgeklärtheit. Zwar dominierte Kroatien die Startphase des Finals, dennoch schoss die «Equipe Tricolore» das erste Tor. Weil Frankreich auch im Finale bewiesen hat, dass es mit allen Wassern gewaschen ist. Weil Antoine Griezmann vor dem Freistoss zum 1:0 abhob, bevor er berührt wurde und sich so die Grundlage zur Führung ergaunerte.
Bei Griezmanns Aktion ging Unfairness in Cleverness über. Die Grenzen sind fliessend. Er sieht, dass der Kontakt kommen wird und fällt. Für Ethik ist im modernen Fussball kein Platz. Wer das noch nicht begriffen hat, wird nie etwas anderes als Herzen gewinnen.
Frankreich hat von der ersten Sekunde des Turniers das getan, was es brauchte, um sich einen Titel zu holen. Die Gruppenphase gegen deutlich schwächere Gegner haben sie souverän, aber ohne zu überzeugen, als Gruppensieger abgeschlossen. Die unsägliche Phrase, dass es sich dabei um die Spielweise einer Turniermannschaft handelt, könnte passender nicht sein.
In der K.o.-Phase gegen Argentinien haben die Franzosen gezwungenermassen einen Gang raufgeschaltet. In dieser Partie haben sie das erste und einzige Mal während der gesamten Weltmeisterschaft die Kontrolle verloren. Sie lagen während 9 Minuten und 12 Sekunden in Rückstand. Es war der einzige richtige Charaktertest, den diese Mannschaft bestehen musste. Sie tat es mit Bravour.
Gegen einen mühsamen Gegner, wie Uruguay im Viertelfinal einer war, haben sie getan, was sie tun mussten. Sie zeigten sich selbst aufsässig, defensiv stabil und profitierten von einem Standard-Tor und einem Torwart-Fehler.
Auch gegen Mitfavorit Belgien reichte im Halbfinal erneut ein Tor nach einem Standard. Danach tat Frankreich, was richtig ist – es verteidigte. Warum mit letzter Vehemenz den zweiten Treffer suchen, wenn doch ein 1:0 reicht? Warum keine Zeit verzögern, wenn es doch der einfachste, sicherste Weg ist, das Spiel nach Hause zu bringen? Frankreich hat pragmatisch gespielt, man kann es ihnen nicht verübeln.
Dass Frankreich sowohl in der Breite als auch in der Qualität mehr zu bieten hatte, als jede andere Mannschaft an diesem Turnier ist ebensowenig Zufall, wie die Tatsache, dass Frankreich das Turnier am Ende gewonnen hat. Die Ausbildung in Frankreich ist ausserordentlich gut – auch weil die Ligue 1 auf die einheimischen Spieler angewiesen ist. Sie ist noch nicht so lukrativ wie die anderen vier grossen Ligen in Europa und kann keine unzähligen ausländischen Spieler verpflichten. Es ist ein Segen für die Nationalmannschaft.
Didier Deschamps muss sich bei der Kadernomination für die Endrunde gefühlt haben, wie der Junge im Süssigkeitenladen. Der Junge, der so viel Sackgeld erhalten hat, dass er gar nicht so viele Lollipops und Leckereien in seine Hosentaschen bringt – der Junge, der von seinen Eltern profitiert, die gut gearbeitet haben. Er hatte die Qual der Wahl.
Deschamps entschied sich trotz all der Auswahl auch für einen sauren Lutscher. Doch die Taktik von Deschamps war so gut, dass sie sogar einen Olivier Giroud als Stammspieler im Sturm verkraftet hat, der seinen Job ungenügend erledigte und während der ganzen WM keinen einzigen Schuss aufs Tor gebracht hat. Wäre Frankreich nicht Weltmeister geworden, Deschamps hätte für diese Personalentscheidung viel Kritik einstecken müssen. Aber wie lehrte uns ein bekannter Fussballphilosoph: «Wäre, wäre, Fahrradkette.»
Deschamps hat auch im Final die richtige Balance gefunden. Frankreich kam bloss auf 39% Ballbesitz. Na und? Wohin das endlose Ballgeschiebe führt, hat man ja bei Spanien gesehen. Man muss nicht die dominanteste oder attraktivste Spielweise wählen, sondern die effizienteste. Einen Weg finden, mehr Tore zu schiessen als der Gegner. So einfach ist es. So einfach hat es Frankreich gemacht.
So hat Frankreich unsere Herzen nicht erobert – zu ihrem Glück. Denn Weltmeister der Herzen zu sein, bedeutet nichts anderes, als versagt zu haben. Der sympathische Verlierer, der zwar Herzen erobert, aber den grossen Triumph verpasst hat. Frankreich ist nicht nach Russland gefahren, um irgendwelche Herzen zu erobern.
Frankreich ist kein Weltmeister der Herzen, sondern einer der Logik. Jeder Sportler weiss, dass es das Einzige ist, was am Ende wirklich zählt.