Es ist das Sinnbild des kaltblütig-bürokratisch angeordneten Massenmords: Vor 75 Jahren schwören sich die Nationalsozialisten an der Wannsee-Konferenz auf den Holocaust ein.
In anderthalb Stunden war alles besprochen. Die 15 Männer, die sich am 20. Januar 1942 in einer Villa am Berliner Wannsee trafen, gönnten sich zum Abschluss einen Cognac, wie Adolf Eichmann, einer von ihnen, später in seinem Prozess in Jerusalem aussagte.
Die Vertreter der Ministerien und des NS-Machtapparats hatten sich auf Einladung von Reinhard Heydrich, dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes, in idyllischer Lage über einen millionenfachen Mord verständigt, der «Endlösung der Judenfrage».
Sechs Teilnehmer erlebten das Kriegsende nicht. Vor Gericht kamen fünf, nur bei Eichmanns Prozess spielte die Konferenz eine bedeutende Rolle.
Josef Bühler, der am Wannsee das «Generalgouvernement» im besetzten Polen vertrat, erklärte vor dem Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg, man habe über eine «humanitäre» Umsiedlung der Juden gesprochen. Innen-Staatssekretär Wilhelm Stuckart behauptete später sogar: «Ich habe da nicht teilgenommen» – obwohl er auf der Teilnehmerliste stand.
Lügen, verschleiern, abstreiten, um die eigene Haut zu retten: Die meisten Teilnehmer der Wannsee-Konferenz, die den Zweiten Weltkrieg überlebten, spielten die Bedeutung des Treffens herunter, wie der Historiker Peter Longerich in seinem neuen Buch «Wannsee-Konferenz – Der Weg zur Endlösung» (Pantheon Verlag) über die Konferenz schreibt.
Tatsächlich erscheint die Konferenz auf den ersten Blick vor allem als ein formaler Akt. Heydrich war an den Wannsee mit einem Blankoscheck von «Reichsmarschall» Hermann Göring gefahren und sollte den Staatsapparat auf Linie bringen. Die Beamten sollten in trauter Runde als Mittäter und Mitwisser «festgenagelt» werden, wie Eichmann später in Jerusalem aussagte.
Doch 75 Jahre danach beschäftigt das Treffen der Schreibtischtäter und das Protokoll der Konferenz noch immer die Historiker. Von dem 15 Seiten langen Papier mit dem Stempel «Geheime Reichssache» verschickte Adolf Eichmann 30 Kopien – nur eine ist erhalten. Das Protokoll ist ein Schlüsseldokument des Holocaust, das Treffen das Sinnbild für seinen kaltblütig-bürokratischen Vollzug.
Weitgehend unstrittig ist, dass an der Konferenz nicht, wie immer wieder dargestellt, die Ermordung der europäischen Juden beschlossen wurde. Schon zu dem Zeitpunkt waren Hunderttausende von ihnen systematisch getötet worden. Hinter den Wehrmachtslinien hatten SS-Einsatzgruppen im Osten bereits mehr als eine halbe Million Menschen umgebracht.
Dennoch bleibt das Protokoll einzigartig, wie Historiker Longerich betont. Kein anderes Dokument reflektiere in solcher Klarheit den Weg und die Absichten der Nationalsozialisten. Adolf Hitler, «Reichsführer SS» Heinrich Himmler und Heydrich hatten sich bis dahin fast nur mündlich verständigt, schriftliche Spuren wurden vernichtet.
In kaum verklausulierter Form zeichnet das Wannsee-Dokument den Gesamtplan nach. Deutlich wird dabei, dass neben SS, Sicherheitsdienst und Sicherheitspolizei auch Reichskanzlei, Justiz, Innenministerium, Auswärtiges Amt, die Besatzungsbehörden und die NSDAP beteiligt waren.
Kaum verhüllt wird der Weg in den Tod beschrieben, penibel die Zahl der Juden Europas mit 11 Millionen Menschen festgehalten. Der Kontinent sollte «vom Westen nach Osten durchgekämmt», die «evakuierten Juden» in «Durchgangsghettos» gebracht werden.
Die Arbeitsfähigen sollten Strassen bauen, «wobei zweifellos ein Grossteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird». Die Überlebenden sollten «entsprechend behandelt» werden. «Vernichtung durch Arbeit», lautete der Befehl. Heydrich drängte auch darauf, den Kreis der Opfer auszuweiten. Auf mehreren Seiten wurde festgehalten, wie Juden und «Mischlinge» ersten und zweiten Grades zu behandeln seien.
Hatten die Beamten die Befugnis zu einer solch weitreichenden Entscheidung? Für Norbert Kampe, den früheren Direktor der Gedenkstätte «Haus der Wannsee-Konferenz», ist das ausgeschlossen. Ohne Absicherung von oben hätten die Ministerialbürokraten ein solches Programm nicht beschliessen können. «Die Entscheidung ist früher gefallen.»
Adolf Hitler selbst hielt den Befehl für den Völkermord wohl nie schriftlich fest. «Das passte nicht zu ihm, Hitler hasste die Bürokratie», sagt Kampe. Doch drei Tage nach seiner Kriegserklärung an die USA am 9. Dezember 1941 rief Hitler die Gauleiter aus dem gesamten Reich nach Berlin.
Mit der Ausweitung des Krieges über den Atlantik, hämmerte der «Führer» der NS-Spitze ein, sollte die Verfolgung der Juden verschärft werden. Weltweit sollten sie für die Niederlage im Ersten Weltkrieg büssen, die Juden seien auch die Urheber des neuen Krieges. «Solche Tiraden Hitlers wurden von der NS-Spitze auf die unteren Ebenen als Handlungsanweisungen weitergeleitet», sagt Kampe.
Longerich sieht den Weg zur «Endlösung» als Klammer der deutschen Besatzungs- und Bündnispolitik. Mit dem voranschreitenden Krieg sollten auch die Juden Europas ermordet werden. Die Konferenz spiegle ein radikales Umdenken in der deutschen Führungsschicht über die weitere Ausrichtung der «Judenpolitik».
Die «Endlösung» wurde mit der Konferenz in den Dienst des Krieges gestellt. Nach Heydrichs Vorstellung sollten nach einem Sieg alle Juden Europas in den Osten verschleppt und dort durch eine Mischung aus Zwangsarbeit, unerträglichen Lebensbedingungen und Massenmorden zugrunde gerichtet werden.
Den Vollzug seines Plans erlebte Heydrich nicht mehr. Der «Reichsprotektor von Böhmen und Mähren» wurde im Mai 1942 von Widerstandskämpfern in Prag bei einem Bombenanschlag schwer verletzt, wenige Tage später erlag er seinen Verletzungen. (dhr/sda/dpa)