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Wenn die Abkehr vom Glauben die grosse Befreiung wird

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Wenn die Abkehr vom Glauben die grosse Befreiung wird – ein ehemaliger Pastor erzählt

Thomas Klepsch war jahrzehntelang ein eifriger Gläubiger einer Freikirche. Heute nennt er sich Atheist.
23.01.2021, 07:35
Hugo Stamm
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Wer in einer sektenhaften Gruppe aktiv ist, taucht in eine mentale Parallelwelt ab. Denken, Handeln und Fühlen ändern sich oft radikal, die geistige Welt ebenfalls – meist begleitet von einer erheblichen Wesensveränderung.

Wie gravierend die Indoktrination durch sektenhafte Gruppen sein kann, zeigt sich, wenn Anhänger die Gruppe verlassen. Sie fallen meist in ein Loch, erleben Angstzustände und Gewissensbisse, sind einsam, kämpfen gegen psychische Probleme und haben Schwierigkeiten, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren.

Der ehemalige Pastor Thomas Klepsch kehrte seiner Freikirche den Rücken.
Der ehemalige Pastor Thomas Klepsch kehrte seiner Freikirche den Rücken.bild:zvg

Erst die Zweifel, dann die Widersprüche

Ausnahmen sind selten. Aber es gibt sie. Ein Vorzeigebeispiel ist der ehemalige deutsche Pastor Thomas Klepsch. Er war jahrelang eine wichtige Stütze einer freikirchlichen Pfingstgemeinde im Raum Ulm/Donau.

«Ich habe immer alle Zweifel schön beiseite geschoben, nur um meinen Glauben nicht zu gefährden.»
Thomas Klepsch

Nach Jahren der Anpassung schlichen sich bei ihm Glaubenszweifel ein. Er beobachtete seine Freikirche genauer, las die Bibel mit freierem Geist. Dabei entdeckte er immer mehr Widersprüche und kehrte 2015 der Freikirche und dem Glauben den Rücken.

Im Gegensatz zu den meisten Aussteigern schaffte er den Absprung ohne grössere Ängste und Gewissensbisse. Er schrieb das Buch «Vom Glauben abgefallen» in dem er seinen Ausstieg dokumentiert. Heute scheut der ehemalige Pastor nicht, sich Atheist zu nennen. Er bereut nichts und freut sich über seine neue Freiheit.

Thomas Klepsch formulierte gegenüber watson, dass er jahrzehntelang vom christlichen Glauben überzeugt gewesen und seiner Gemeinde treu gewesen sei. «Ich habe immer alle Zweifel schön beiseite geschoben, nur um meinen Glauben nicht zu gefährden.» Dadurch sei er in seinem Denken sehr einfach geblieben.

Schneller Ausstieg

Den Ausstieg schaffte er ungewöhnlich schnell nach rund drei Monaten intensiver Auseinandersetzung. Anfängliche Ängste konnte er trotz der inneren Anfeindungen rasch parieren: «Ich wusste von der Bibel her, dass mich als Aussteiger ein schweres Gericht in Form einer ewig währender Höllenstrafe treffen würde.»

«Ich habe erkannt, dass es sich bei der Bibel um eine Sammlung von unglaubwürdigen, gefälschten Berichten, Wahnvorstellungen von Menschen und schlichtweg um religiösen Nonsens handelt.»
Aussage des ehemaligen Pastors Thomas Klepsch.

Klepsch erwähnt entsprechende Bibelaussagen und zitiert Hebräer 6, 4-6: «Denn es ist unmöglich, diejenigen, die einmal erleuchtet worden sind und die himmlische Gabe geschmeckt haben und des Heiligen Geistes teilhaftig geworden sind und das gute Wort Gottes und die Kräfte des zukünftigen Zeitalters geschmeckt haben und ⟨doch⟩ abgefallen sind, wieder zur Busse zu erneuern, da sie für sich den Sohn Gottes wieder kreuzigen und dem Spott aussetzen.»

Er liess sich aber nicht mehr von Bibelaussagen beeindrucken, weil «ich zunehmend erkannt habe, dass es sich bei der Bibel um eine Sammlung von unglaubwürdigen, gefälschten Berichten, Wahnvorstellungen von Menschen und schlichtweg um religiösen Nonsens handelt».

Klepsch kritisiert auch den Absolutheitsanspruch. Er erwähnt einen erfahrenen Pastor, der gepredigt habe, ein halber Christ sei ein ganzer Unsinn. «Den Satz habe ich bis heute verinnerlicht», sagt er. «Entweder man ist ganz dabei oder gar nicht.» Da er keine halben Sachen machen könne, habe er sich für den «Nichtmehr-Glauben» entschieden.

Thomas Klepsch drehte also das Dogma um: Wenn Bibel und Freikirche «alles oder nichts» verlangen, könne er sich mit dem gleichen Anspruch für das Nichts entscheiden. Das tat er konsequent.

Deshalb verfolgten ihn auch selten Ängste. «Wenn doch einmal der innere Impuls angeflogen kam, wie zum Beispiel: ‹Thomas, wenn der Glaube an das Evangelium die Wahrheit ist, dann hast du die Arschkarte gezogen!›, dann bleibe ich standhaft.»

Gespräche mit andern Aussteigern waren ihm wichtig

Ihm hat bei aufkeimenden Glaubenszweifeln geholfen, alle Kritikpunkte zu notieren und zu verinnerlichen. Hilfreich sei auch der Austausch mit anderen Aussteigern und der aktive Aufbau eines neuen Freundeskreises gewesen. Geholfen haben ihm auch religionskritische Publikationen von Aussteigern und Schriftstellern.

Seinen Ausstieg begünstigt hat auch die Doppelmoral seiner Freikirche. Thomas Klepsch erzählt, seine Gemeinde habe sich gegenüber Vertretern anderer Religionen, gegenüber Menschen mit anderen Lebenseinstellungen, sexuellen Neigungen und Weltanschauungen zwar offen und gesprächsbereit gezeigt, dies jedoch nur aus taktischen Gründen. In Wahrheit sei es darum gegangen, sich bei den Skeptikern einzuschmeicheln und sie zum vermeintlich rechten Glauben zu bringen, also zu missionieren.

Nach seinem Ausstieg hat Thomas Klepsch weitere Widersprüche entdeckt. So würden Christen behaupten, die enge Verbindung zu Christus schaffe persönliche Freiheit. Doch er habe erlebt, dass es genau anders herum sei. Seit er nicht mehr glaube, sei das Leben ungemein schöner und interessanter.

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Abfall vom Glauben als neue Freiheit

Er müsse es nicht mehr ertragen, vergeblich für Kranke zu beten, damit Gott sie heile. Denn dies habe nichts genützt, bei vielen Gläubigen seiner Gemeinde habe sich der Gesundheitszustand sogar rapid verschlechtert. «Ich unterliege auch nicht mehr der Pflicht, ein ‹fleissiger Diener in Gottes Reich› zu sein», sagt der ehemalige Pastor.

Er habe seit dem Ausstieg auch nicht mehr den ständigen Druck der immensen Gemeindearbeit: Bibelstunden, Gebets- und Fastenabende, Evangelisationen, Lobpreis, Kinderbetreuung, Leitertreffen, Gottesdienste usw. Den Alltag selbst bestimmen zu können und mehr Zeit für sich und die Familie zu haben, erlebt Thomas Klepsch ebenfalls als Befreiung.

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Hugo Stamm; Religionsblogger
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Glaube, Gott oder Gesundbeter – nichts ist ihm heilig: Religions-Blogger und Sekten-Kenner Hugo Stamm befasst sich seit den Siebzigerjahren mit neureligiösen Bewegungen, Sekten, Esoterik, Okkultismus und Scharlatanerie. Er hält Vorträge, schreibt Bücher und berät Betroffene.
Mit seinem Blog bedient Hugo Stamm seit Jahren eine treue Leserschaft mit seinen kritischen Gedanken zu Religion und Seelenfängerei.

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760 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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ensamvarg
23.01.2021 08:26registriert Juni 2020
Ich war zwar nie Pastor, obwohl ich auch mal Theologie studiert habe (in Riehen), aber ausgestiegen bin ich auch. Hat bei mir jedoch länger gedauert, da ich mit dem ganzen Kram aufgewachsen war, mit schwerer Gehirnwäsche und so. Und der Ausstieg war befreiend, das kann ich auch bestätigen. Auch wenn es zunächst Nachteile hat, weil man sein ganzes soziales Umfeld verliert. Aber die Freiheit, die der Ausstieg mit sich bringt, ist wichtiger. Und mit der Zeit lernt man auch neue Leute kennen, die einen mögen, weil sie einen mögen und nicht weil Jesus ihnen befohlen hat, einen zu mögen.
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Glückspost
23.01.2021 08:35registriert September 2016
Danke für den Beitrag.
Mich regen diese absoluten Christen auch unwahrscheinlich auf.
Dieses süffisante, leicht grenzdebile Dauergrinsen, mit denen sie ihre vermeintliche moralische Überlegenheit nach aussen tragen, lässt sich nur äusserst schwer ertragen.
Ich habe in meiner Kindheit und hier in Zürich beim ICF genügend Kontakt zu derlei Delinquenten gehabt.
Schade ist, dass sie einfach an ihren Leben vorbeileben und auf Nektar und Ambrosia im Himmelreich hoffen.
Mir sind teizeitreligiöse Menschen da um einiges lieber.
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Uno
23.01.2021 08:07registriert Oktober 2019
Persönlich habe ich den umgekehrten Weg gemacht, vom Atheisten via Agnostiker zum Gläubigen. Mich befreit dies sehr, aber ich lebe und glaube meine "eigene" Kirche und würde wenig auf Freikirchen und sonstige Sekten geben. Ich bin gläubig ohne in eine Kirche zu gehen.
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70 Jahre Sex, Joints und Liebe! Happy Birthday, Papi!
Ich war, bin und werde wohl immer ein Papa-Kind sein. Sorry, Mum! Heute feiert besagter Superheld seinen 70. Geburtstag. Eine Ode an den Mann, der mich zu meiner besten Version geformt hat.

Man sagt ja, dass Männer quasi ihre Mütter und Frauen ihre Väter heiraten. Würde ich Sandro heiraten, wäre an dieser Floskel ganz definitiv was dran. Und das nicht nur, weil ich sowohl Sandro als auch meinen Papa Bruno von Herzen liebe.

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