Wer in einer sektenhaften Gruppe aktiv ist, taucht in eine mentale Parallelwelt ab. Denken, Handeln und Fühlen ändern sich oft radikal, die geistige Welt ebenfalls – meist begleitet von einer erheblichen Wesensveränderung.
Wie gravierend die Indoktrination durch sektenhafte Gruppen sein kann, zeigt sich, wenn Anhänger die Gruppe verlassen. Sie fallen meist in ein Loch, erleben Angstzustände und Gewissensbisse, sind einsam, kämpfen gegen psychische Probleme und haben Schwierigkeiten, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren.
Ausnahmen sind selten. Aber es gibt sie. Ein Vorzeigebeispiel ist der ehemalige deutsche Pastor Thomas Klepsch. Er war jahrelang eine wichtige Stütze einer freikirchlichen Pfingstgemeinde im Raum Ulm/Donau.
Nach Jahren der Anpassung schlichen sich bei ihm Glaubenszweifel ein. Er beobachtete seine Freikirche genauer, las die Bibel mit freierem Geist. Dabei entdeckte er immer mehr Widersprüche und kehrte 2015 der Freikirche und dem Glauben den Rücken.
Im Gegensatz zu den meisten Aussteigern schaffte er den Absprung ohne grössere Ängste und Gewissensbisse. Er schrieb das Buch «Vom Glauben abgefallen» in dem er seinen Ausstieg dokumentiert. Heute scheut der ehemalige Pastor nicht, sich Atheist zu nennen. Er bereut nichts und freut sich über seine neue Freiheit.
Thomas Klepsch formulierte gegenüber watson, dass er jahrzehntelang vom christlichen Glauben überzeugt gewesen und seiner Gemeinde treu gewesen sei. «Ich habe immer alle Zweifel schön beiseite geschoben, nur um meinen Glauben nicht zu gefährden.» Dadurch sei er in seinem Denken sehr einfach geblieben.
Den Ausstieg schaffte er ungewöhnlich schnell nach rund drei Monaten intensiver Auseinandersetzung. Anfängliche Ängste konnte er trotz der inneren Anfeindungen rasch parieren: «Ich wusste von der Bibel her, dass mich als Aussteiger ein schweres Gericht in Form einer ewig währender Höllenstrafe treffen würde.»
Klepsch erwähnt entsprechende Bibelaussagen und zitiert Hebräer 6, 4-6: «Denn es ist unmöglich, diejenigen, die einmal erleuchtet worden sind und die himmlische Gabe geschmeckt haben und des Heiligen Geistes teilhaftig geworden sind und das gute Wort Gottes und die Kräfte des zukünftigen Zeitalters geschmeckt haben und ⟨doch⟩ abgefallen sind, wieder zur Busse zu erneuern, da sie für sich den Sohn Gottes wieder kreuzigen und dem Spott aussetzen.»
Er liess sich aber nicht mehr von Bibelaussagen beeindrucken, weil «ich zunehmend erkannt habe, dass es sich bei der Bibel um eine Sammlung von unglaubwürdigen, gefälschten Berichten, Wahnvorstellungen von Menschen und schlichtweg um religiösen Nonsens handelt».
Klepsch kritisiert auch den Absolutheitsanspruch. Er erwähnt einen erfahrenen Pastor, der gepredigt habe, ein halber Christ sei ein ganzer Unsinn. «Den Satz habe ich bis heute verinnerlicht», sagt er. «Entweder man ist ganz dabei oder gar nicht.» Da er keine halben Sachen machen könne, habe er sich für den «Nichtmehr-Glauben» entschieden.
Thomas Klepsch drehte also das Dogma um: Wenn Bibel und Freikirche «alles oder nichts» verlangen, könne er sich mit dem gleichen Anspruch für das Nichts entscheiden. Das tat er konsequent.
Deshalb verfolgten ihn auch selten Ängste. «Wenn doch einmal der innere Impuls angeflogen kam, wie zum Beispiel: ‹Thomas, wenn der Glaube an das Evangelium die Wahrheit ist, dann hast du die Arschkarte gezogen!›, dann bleibe ich standhaft.»
Ihm hat bei aufkeimenden Glaubenszweifeln geholfen, alle Kritikpunkte zu notieren und zu verinnerlichen. Hilfreich sei auch der Austausch mit anderen Aussteigern und der aktive Aufbau eines neuen Freundeskreises gewesen. Geholfen haben ihm auch religionskritische Publikationen von Aussteigern und Schriftstellern.
Seinen Ausstieg begünstigt hat auch die Doppelmoral seiner Freikirche. Thomas Klepsch erzählt, seine Gemeinde habe sich gegenüber Vertretern anderer Religionen, gegenüber Menschen mit anderen Lebenseinstellungen, sexuellen Neigungen und Weltanschauungen zwar offen und gesprächsbereit gezeigt, dies jedoch nur aus taktischen Gründen. In Wahrheit sei es darum gegangen, sich bei den Skeptikern einzuschmeicheln und sie zum vermeintlich rechten Glauben zu bringen, also zu missionieren.
Nach seinem Ausstieg hat Thomas Klepsch weitere Widersprüche entdeckt. So würden Christen behaupten, die enge Verbindung zu Christus schaffe persönliche Freiheit. Doch er habe erlebt, dass es genau anders herum sei. Seit er nicht mehr glaube, sei das Leben ungemein schöner und interessanter.
Er müsse es nicht mehr ertragen, vergeblich für Kranke zu beten, damit Gott sie heile. Denn dies habe nichts genützt, bei vielen Gläubigen seiner Gemeinde habe sich der Gesundheitszustand sogar rapid verschlechtert. «Ich unterliege auch nicht mehr der Pflicht, ein ‹fleissiger Diener in Gottes Reich› zu sein», sagt der ehemalige Pastor.
Er habe seit dem Ausstieg auch nicht mehr den ständigen Druck der immensen Gemeindearbeit: Bibelstunden, Gebets- und Fastenabende, Evangelisationen, Lobpreis, Kinderbetreuung, Leitertreffen, Gottesdienste usw. Den Alltag selbst bestimmen zu können und mehr Zeit für sich und die Familie zu haben, erlebt Thomas Klepsch ebenfalls als Befreiung.