Sekten sind weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Befassten sich die Medien früher regelmässig mit Problemen der radikalen religiösen Gruppen und den destruktiven Folgen der Vereinnahmung, ist das Interessen an dem Phänomen teilweise erlahmt. Ich werde denn auch oft gefragt, ob es heute weniger Sekten gäbe. Diese Frage beantwortet der jüngste Jahresbericht von Infosekta.
Die Zürcher Beratungsstelle verzeichnete 2024 mehr Anfragen denn je. Diese betrafen 300 problematische Gruppen oder sektenhafte Exponenten. Fazit: Das Sektenproblem ist so aktuell und akut wie eh und je.
Vielleicht hat die Gleichgültigkeit damit zu tun, dass Sektenhaftigkeit in der Mitte der Gesellschaft angekommen und die neue Realität ist – vor allem in der Politik. Putin, Xi Jinping, Milei, Trump, Erdogan und ein Stück weit auch Netanjahu sind ideologisch übersteuert und gebärden sich wie allmächtige Sektenführer.
Zurück zu Infosakta: Die vielen Anfragen von Ratsuchenden haben vielleicht auch damit zu tun, dass die Aufklärung in den Medien stagniert. Die Sekten freuen sich, dass sie heute vermehrt unter dem Radar der Medien fliegen respektive missionieren können.
Ich höre in letzter Zeit von Eltern, die ihre Tochter oder ihren Sohn an eine sektenhafte Gruppe verloren haben, folgende Aussage: Ich hätte nie gedacht, dass wir einmal mit dem gravierenden Problem konfrontiert würden. Infosekta schreibt denn auch, dass die Problemsituationen komplex seien und meist das ganze Familiensystem betreffen würden.
Schauen wir die Kennzahlen von Infosekta kurz an. Die Beratungsstelle verzeichnete im vergangenen Jahr rund 3500 Beratungs- und Informationskontakte. Mitgezählt sind auch die Mehrfach- oder Folgekontakte. Der Anstieg ist markant, waren es doch im Vorjahr 2975 Kontakte. Er ist weitgehend auf die Zunahme der Folgekontakte zurückzuführen. Ein Hinweis darauf, dass die Beratungen intensiver geführt wurden, weil die Probleme akuter waren. Infosekta bestätigt denn auch, dass vor allem die Begleitungen intensiv gewesen seien.
Der Jahresbericht zeigt weiter, dass das Sektenphänomen nicht nur bei eigentlichen Sekten zu beobachten ist, sondern auch in anderen Lebensbereichen. Konkret: 67 Prozent der Anfragen bezogen sich auf einzelne Gruppen oder Einzelanbieter sektenhafter Angebote. 29 Prozent betrafen Themen wie Verschwörungsglaube, Staatsverweigerer, False Memory, Satanic Panic, Flat Earth, toxische Unternehmenskultur, Gesundsheits- und Krankheitskonzepte in sektenhaften Milieus, Esoterik, Lifecoaching, Multilevel-Marketingsysteme und vieles mehr. Bei den Freikirchen ging es vorwiegend um den Einfluss in der sozialen Arbeit, in der Jugendarbeit und im Bereich der Pflegefamilien.
Die allermeisten Anfragen betreffen denn auch christliche Gruppen. Mit insgesamt 55 Prozent führen sie die unrühmliche Hitliste an. Davon betreffen 47 Prozent die Zeugen Jehovas und 33 Prozent evangelikale Gemeinden. Es überrascht auch nicht, dass Anfragen aus dem esoterischen Umfeld bei der Gesamtrangliste mit 22 Prozent an zweiter Stelle stehen.
Die Statistik von Infosekta verrät weiter, dass nicht nur Einzelpersonen (70 Prozent) von einem Sektenproblem betroffen sind, sondern auch Behördenvertreterinnen und Institutionen (30 Prozent) wie Schulleitungen, Lehrpersonen, Sozialdienste, Jugendarbeiterinnen, Kliniken, KESB, Kirchgemeinden, Bildungsinstitutionen usw.
In der Öffentlichkeit herrscht oft die Meinung vor, dass sich vor allem Sektenmitglieder bei der Beratungsstelle melden würden. Dies sind seltene Einzelfälle, denn Sektenmitglieder sind überzeugt, dass ihre Gruppe keine sektenhaften Tendenzen aufweist oder Indoktrination betreibt. Ausserdem warnen viele sektenhafte Gruppen vor Infosekta.
Hingegen brauchen ehemalige Sektenanhängerinnen und -anhänger nach ihrem Ausstieg professionelle Hilfe und Unterstützung bei der Verarbeitung ihrer traumatischen Erlebnisse. Dieser Prozess ist schmerzhaft und dauert meist mehrere Jahre. 13 Prozent der Anfragen stammen von Aussteigern.
Infosekta führt zwei Selbsthilfegruppen. Eine befasst sich vornehmlich mit den Zeugen Jehovas. Diese radikale, weltweit verbreitete Endzeitgemeinschaft führt mit 26 Prozent die unrühmliche Rangliste der nachgefragten Gruppen an. An zweiter Stelle folgt Scientology mit 4 Prozent. Das ist insofern bemerkenswert, als die amerikanische Sekte früher das Klassement auch schon mal angeführt hat. Einer der Gründe für den «Abstieg»: Die Psychosekte schrumpft und hat an Stosskraft verloren. Aber sie ist weiterhin aktiv in der Schweiz.
Obwohl Susanne Schaaf und ihr kleines Team bei Infosekta eine ausgezeichnete Arbeit bei der Beratung, der Begleitung und der Aufklärung leisten – sie erbrachten 800 Stunden Freiwilligenarbeit –, werden sie von den politischen Behörden nur marginal unterstützt. Geben diese für die Alkohol- und Drogenprävention viele Millionen aus, knausern sie bei der Sektenarbeit. Der Vergleich ist durchaus angebracht, denn es handelt sich auch bei Sekten um ein Suchtphänomen.
Es ist offensichtlich, dass viele Politikerinnen und Politiker beim Thema Sekten zurückschrecken, handelt es sich doch im weitesten Sinn um einen religiösen Aspekt. Da will sich offenbar niemand die Finger verbrennen.
Einerseits kann die Auseinandersetzung mit Sekten in eine Schlammschlacht ausarten, andererseits will niemand als religiös intolerant gelten, zumal Mitglieder von Freikirchen in vielen politischen Gremien aktiv sind.