Seit Gläubige die Landeskirchen in Scharen verlassen, stellt sich die Frage, ob die Freikirchen ebenfalls einen Aderlass erleben. Dieser Frage ist das Forschungsteam «Kirchengründung Schweiz» unter der Leitung des Theologen Simon Gisin nachgegangen.
Es führte im Auftrag des freikirchlichen Verbandes Freikirchen.ch in den Jahren 2017, 2020 und 2023 Erhebungen zu den Gottesdienstbesuchenden oder/und Mitgliedern durch. Das Fazit: Verglichen mit der katholischen und reformierten Kirche bleiben die Zahlen bei den Freikirchen recht stabil.
Doch der Anspruch der Freikirchen ist hoch, die frommen Christen wollen Gottes Auftrag erfüllen und eifrig missionieren, auf dass die Freikirchen rasch wachsen. So gesehen fällt die Bilanz bescheiden aus: Auch die Freikirchen schrumpfen, wenn auch weit weniger stark als die Landeskirchen.
Für die Freikirchen ein kleiner Trost, setzen sie doch viel Geld und Energie ein, um neue «Schäfchen» für ihren Gott zu gewinnen.
Was sind Freikirchen? Für die Gläubigen ist die Bibel von Gott inspiriert, also sein authentisches Wort. Sie grenzen sich von den Landeskirchen ab, weil diese in ihren Augen eine lauwarme christliche Lehre vertreten und von ihnen primär als «Papierli-Christen» wahrgenommen werden.
Doch der Name ist irreführend. Frei sind die Gläubigen in Freikirchen nur bedingt. Ihre Pastoren, Ältesten und Gemeindeleiter predigen eine radikale Form des Glaubens, der fundamentalistische Züge trägt. Mit allen negativen Konsequenzen.
So bestimmt der freikirchliche Glaube das Bewusstsein, das Handeln und den Alltag der Gläubigen. Sie sind überzeugt, von Gott und Jesus Signale zu bekommen. Viele glauben sogar, dass die Geistlichen und teilweise sie selbst mit den himmlischen Instanzen kommunizieren können. Und dass Gott direkt in die Welt einwirkt und die Erde lenkt.
Dieser kindliche Glaube hat aber eine Kehrseite: Die Kontrolle durch den Vater im Himmel, die zu einem lückenlosen Sündenregister führt. Die Angst, sündig zu werden, sitzt deshalb den Gläubigen ebenso im Nacken wie der Satan, der sie angeblich verführen will. Das kann am Jüngsten Tag zum Verhängnis werden, falls Gott mit dem Daumen nach unten zeigt.
Die Einbindung und die soziale Kontrolle sind in Freikirchen die Norm. Man lebt für Gott und widmet ihm sein Leben. Eine Trennung von Gott und Welt gibt es nicht. Der Glaube bestimmt alles und jedes.
So ist Sex vor der Ehe nicht im Sinn Gottes und Abtreibungen werden von vielen als Kindsmord bewertet. Der Glaube an die baldige Apokalypse ist bei vielen Gläubigen tief verankert und zeigt sich im geflügelten Spruch: «Wir leben in den letzten Tagen.»
Nach diesem kleinen Exkurs zurück zu den Erhebungen der Freikirchen.
Verschwanden von 2017 bis 2020 total 15 Freikirchen von der Bildfläche, waren es von 2020 bis 2023 insgesamt 26. Bei den etablierten langjährigen Freikirchen ist der Schwund wesentlich grösser. Die Zahl sank von 733 auf 695.
Allerdings sind aktuell 45 Freikirchen im Aufbau. Der Verband Freikirchen Schweiz unternimmt grosse Anstrengungen, neue Gemeinschaften zu gründen. Ob diese erfolgreich durchstarten können, ist ungewiss. Der Studienleiter Simon Gisin schreibt: «Der gleiche oder gar grössere Effort ist auch in den nächsten Jahren angezeigt, will man in Zukunft dieser rückläufigen Tendenz entgegenwirken.»
Zu den konkreten Zahlen: Insgesamt gibt es in der Schweiz 1335 Freikirchen. Eine stolze Zahl. Nimmt man die 2131 Städte und Gemeinden in der Schweiz, macht das auf zwei Kommunen mehr als eine Freikirche. 890 aller Freikirchen sind in der Deutschschweiz ansässig, 423 in der welschen und 2 in der italienischen Schweiz.
Wie gross sind die Freikirchen? Laut der Studie liegt die mittlere Grösse bei 60 Gläubigen – Kinder nicht mitgezählt. Als gross gelten Gemeinschaften mit 100 Gläubigen, als sehr gross solche mit 171 und mehr.
Von den 784 Gemeinschaften, die dem Verband «Freikirchen Schweiz» angeschlossen sind, entfallen mehr als die Hälfte auf die Kantone Bern und Zürich. Obenauf schwingt Bern mit 235, gefolgt von Zürich mit 156 Freikirchen. Zum Vergleich: Bern hat nur gut 1 Million Einwohner, Zürich hingegen 1,6 Millionen.
Wie lässt sich das Ungleichgewicht erklären? Das Berner Oberland ist traditionell und historisch bedingt eine Hochburg der verschiedenen Freikirchen. Die Verfolgung der Mennoniten und anderer Gruppen der Täuferbewegung im 17. Jahrhundert führte zur Flucht in die Berge oder ins Hinterland. Also ins Berner und teilweise ins Zürcher Oberland.
Die Freikirchen konnten sich in diesen beiden Regionen erfolgreich halten. Dieser Umstand zeigt, dass die frommen Christen einen starken Zusammenhalt schaffen können, der bis heute wirkt.
Was wie eine Errungenschaft erscheint, hat aber eine problematische Seite: Die Einbindung und der Glaubensdruck sind so gross, dass sich die Freikirchen Jahrhunderte lang erfolgreich gegen den Zeitgeist stemmen konnten.
Diesen Erfolg verdanken die Freikirchen primär den Familien. Die Kinder werden mit dem strengen Glauben imprägniert. Er wird zu ihrer DNA. Sie sind der Beeinflussung ausgeliefert und verlieren die Entscheidungsfreiheit in religiösen Fragen.
Wenn sie das enge Korsett des strengen Glaubens nicht mehr aushalten, verlieren sie weitgehend ihr Umfeld und werden oft sozial isoliert. Der Preis für eine religiöse Emanzipation ist deshalb sehr hoch, weshalb nur wenige Gläubige ausbrechen.
Jugendliche und junge Erwachsene, die glaubensmässig abtrünnig werden, stürzen ihre Eltern in ein Dilemma oder gar ins Elend. Sie glauben, dass die Seelen ihrer Kinder verloren sind, also dem Satan anheimgefallen.
Viele Eltern machen sich dann Vorwürfe, in der religiösen Erziehung versagt zu haben und allenfalls von Gott bestraft zu werden. Zum Beispiel mit einem schweren Schicksalsschlag. Manche befürchten auch, dereinst im Himmel nicht mehr als Familie vereint zu sein.
Diese radikale Form des Glaubens sichert zwar vielen Freikirchen das Überleben, frei im Sinn von selbstbestimmt werden die Gläubigen aber nicht. Die Freiheit in den Freikirchen ist arg beschränkt.