Viele Menschen fühlen sich in den letzten Monaten förmlich erschlagen von der Flut negativer Schlagzeilen. Das Stakkato von bad news aus aller Welt schlägt ihnen aufs Gemüt. Der tägliche Wahnsinn – Krieg in der Ukraine, im Nahen Osten, Wahlkampf in den USA mit dem Sieg des Rambos Donald Trump – schickt sie auf eine emotionale Achterbahn.
Dieser Ausnahmezustand ist an der Sektenfront Normalzustand. Die problematischen Gruppen und Bewegungen generieren fast ausschliesslich unrühmliche Schlagzeilen. Es geht um Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffe, mentale Manipulation, Repression, Unterwürfigkeit, Entmenschlichung, gefährliche Rituale usw.
Manche Experten sprechen in diesem Zusammenhang von ekklesiogenen Neurosen. Doch dieser Begriff ist eine Verharmlosung. Bei vielen Sektenopfern sind Begriffe wie Depression, Schizophrenie, multiple Persönlichkeit oder Dissoziation zutreffender.
Doch für einmal gibt es aus dem Reich der Sekten eine gute Nachricht. Sie betrifft erstaunlicherweise die Zeugen Jehovas (ZJ), eine der weltweit grössten christlichen Freikirchen mit deutlich sektenhaften Zügen. Hat sie sich gemässigt? Ihre radikalen christlich-fundamentalistischen Dogmen aufgeweicht? Die sexuellen Übergriffe in ihren Reihen aufgearbeitet und offengelegt? Den Kontaktabbruch mit Abtrünnigen als Irrlehre deklariert?
Leider nein. Die gute Nachricht kommt vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Er hat einen dänischen Arzt freigesprochen, der einem verunfallten Zeugen Jehovas trotz gegenteiliger Patientenverfügung eine Bluttransfusion verabreichte.
Dazu muss man wissen, dass die ZJ Bluttransfusionen grundsätzlich ablehnen. So verlangen es die Kirchenfürsten. In ihrem Fanatismus machen sie die unsinnige Blutfrage zu einem existentiellen Dogma, das den Gläubigen eingebläut wird. Die Indoktrination geht so weit, dass sie lieber sterben, als sich Fremdblut geben zu lassen.
Muss sich ein Glaubensbruder oder eine -schwester einer Operation unterziehen, tritt ein Krankenhauskomitee der ZJ auf den Plan und überwacht, dass die Ärzte dem Patienten in einem Notfall kein Blut verabreichen.
Die ZJ leiten das Verbot der Bluttransfusion von der Bibel ab. Das Blut ist für sie heilig. Durch die Vermischung werde die Identität tangiert, eben vermischt, glauben sie. Das führe allenfalls dazu, dass Gott die betroffenen Gläubigen am jüngsten Tag nicht mehr richtig zuordnen könne.
Zurück zum verunfallten Zeugen Jehovas. Der 67-jährige Däne fiel vor Jahren vom Dach und erlitt innere Blutungen, wie dänische Medien berichteten. Er verfügte über eine zwei Jahre alte Patientenverfügung, die den Ärzten verbot, eine Bluttransfusion vorzunehmen. Der Blutverlust war so gross, dass der Arzt dem Patienten Blutersatz verabreichte, was die ZJ erlauben.
Doch das reichte nicht, der Hämoglobinwert sackte so tief ab, dass akute Lebensgefahr bestand. Da der Patient im Koma lag, konnte ihn der Arzt nicht fragen, ob er immer noch am Blutgebot festhalte und gab ihm Fremdblut.
Aus Sicht der ZJ eine Katastrophe. Die Strafe Gottes folgte aus ihrer Perspektive auf dem Fuss. Der Verunfallte erwachte nicht mehr aus dem Koma und starb einen Monat später. Er läuft nun möglicherweise Gefahr, des Paradieses verwirkt zu haben. Anders ausgedrückt: Gott lässt ihn fallen. Solch fatale Konsequenzen können abstruse Interpretationen der Bibel mit sich bringen.
Doch die Geschichte ist noch nicht fertig. Da die ZJ ihr Blutgebot durch alle Böden verteidigen, führte die Frau des Verstorbenen eine Beschwerde gegen das Spital wegen Missachtung des Patientenwillens. Vergeblich. Nun reichte sie eine Klage gegen die dänische Patientensicherheitsbehörde ein.
Zum Schluss des juristischen Marathons entschied das oberste dänische Gericht, dass ein Patient bei einer Lebensgefahr kurz vor einem Eingriff seinen Willen bestätigen müsse, kein Fremdblut zu akzeptieren. Unabhängig von einer entsprechenden Patientenverfügung.
Für die Zeugen eine Katastrophe, hatten doch die Gerichte ihr Blutgebot bisher in vielen Fällen geschützt. Also zog die Frau vor den EGMR. Doch auch in Strassburg erlitten sie und die ganze Glaubensgemeinschaft eine Abfuhr. Die Richter stützten die Haltung des Arztes und des Spitals, dass ein Patient seinen Willen kurz vor der Behandlung bestätigen müsse.
Das ist eine schlechte Nachricht für die Bosse der ZJ, aber eine gute für die Gläubigen, auch wenn sie es nicht erkennen können. In Zukunft könnte der Entscheid des EGMR dazu führen, dass das Leben von verunfallten Gläubigen gerettet werden kann.