Bisher konnte sich die Schweizerische Evangelische Kirche (SEK) oft zurücklehnen und zuschauen, wie die katholische Kirche mit regelmässigen Skandalen ihren Ruf besudelte. Doch für einmal probte die SEK erfolgreich den unrühmlichen Rollentausch.
Urheber des Desasters ist Gottfried Locher, ehemaliger Präsident der Protestanten. Mitschuldig ist aber auch die Mehrheit der Abgeordneten, die Locher seit 2011 dreimal auf den Schild gehoben haben, obwohl zuletzt etliche Zeichen auf Alarm standen.
Locher gebärdete sich stets als charismatische Führungsperson mit einem ausgeprägten Hang zur Macht. Er wollte der Kirche ein Profil geben, ein ausgeprägtes Gesicht. Sein Gesicht.
Er wollte ein richtiger Präsident sein und drängte auf eine neue Verfassung, die seinem Anspruch nach Führungskompetenzen gerecht werden sollte. Sein Amt sollte mehr Glanz bekommen.
Locher hatte immer schon zur katholischen Kirche geschielt, wo die Kardinäle und Bischöfe verehrt werden und sich mit Prunk und Pomp den Gläubigen und der Öffentlichkeit präsentieren können. Es ist wohl kein Zufall, dass er eine enge Beziehung zum Schweizer Kardinal Kurt Koch pflegt.
Obwohl kircheninterne Kritiker Locher schon früh ein Machtgehabe vorwarfen und sein Frauenbild kritisierten, hielten die Kirchengremien über all die Jahre zu ihm. Sie liessen sich von Locher blenden und schlugen die Warnzeichen in den Wind.
So äusserte er sich in einem Weltwoche-Artikel kritisch zur angeblichen Feminisierung in der Kirche. Und in einem Buch machte er eine irritierende Aussage zu Sexualität und Prostitution: «Befriedigte Männer sind friedlichere Männer. Darum sage ich, wir sollten den Prostituierten dankbar sein. Sie tragen auf ihre Art etwas zum Frieden bei», schrieb der Kirchenpräsident.
Später warf ihm eine ehemalige Mitarbeiterin Grenzüberschreitungen vor. Locher wehrte sich mit Anwälten und PR-Beratern gegen die Anschuldigungen und warf den Frauen eine koordinierte Kampagne vor.
Dabei konnte Locher auf seine rhetorischen Fähigkeiten und seine «Follower» in den Kirchengremien zählen, die unter anderem einen Skandal verhindern wollten. Dass auch weitere sechs Frauen Locher Grenzüberschreitungen vorwarfen, konnte ihm ebenfalls nichts anhaben.
Zum Eklat kam es erst 2020, als die Basler Pfarrerin Knall auf Fall aus dem Kirchenrat zurücktrat. Sie hatte offenbart, mit Locher ein Verhältnis gehabt zu haben. Dies war zwar eine einvernehmliche Beziehung, war aber ein weiterer Hinweis auf Lochers Neigungen.
Nun stieg der Druck auf den Kirchenpräsidenten, der im Mai 2020 demissionierte. Einsicht zeigte er aber nicht.
Mediale Unterstützung erhielt er von seinem Freund und Pfarrer Josef Hochstrasser. Er warf den besagten Frauen öffentlich eine gezielte Kampagne vor.
Doch diese Woche fiel das Kartenhaus von Locher zusammen. Der Untersuchungsbericht einer Anwaltskanzlei bestätigte die Vorwürfe der ehemaligen Angestellten in allen Punkten und rehabilitierte sie. Sie sei durch sexuelle Belästigung und Eingriffe in die geistige Integrität ihrer Persönlichkeit verletzt worden, heisst es im Bericht.
Kein besonders gutes Zeugnis stellt die Untersuchung dem Kirchenrat, der Exekutive, aus. Er habe zwar im Umgang mit der Beschwerde umsichtig reagiert, aber «unter einer Aussenperspektive nicht optimal gehandelt».
Locher war abgetaucht und hatte sich geweigert, Fragen der untersuchenden Anwälte zu beantworten. Auf die mutmasslichen sexuellen und psychischen Grenzverletzungen im kirchlichen Umfeld der weiteren sechs Frauen ging der Untersuchungsbericht nicht ein. Diese waren nicht bereit, ihre Anonymität aufzugeben. Offenbar hatten sie Angst, öffentlich geoutet zu werden.
Der Fall Locher zeigt, dass auch Glaubensgemeinschaften und Kirchen nicht gefeit sind, Spielball von machtbewussten Führungspersonen zu werden, die ihre persönlichen und allzu weltlichen Bedürfnisse im spirituellen Umfeld befriedigen wollen.
Die Vorgänge zeigen aber auch, dass die Kirchenkader mitverantwortlich sind, weil sie sich instrumentalisieren liessen und die warnenden Stimmen nicht ernst genommen haben. Der säkulare Einfluss auf Glaubensgemeinschaften ist oft stärker als der religiöse Geist.