Die Zeugen Jehovas sind neben den Weltreligionen eine der grössten Glaubensgemeinschaften. Es gibt kaum ein Land, das vom missionarischen Eifer der Verkünder und «ernsten Bibelforschern» verschont geblieben ist. Ihre christlichen Pamphlete «Wachtturm» und «Erwachet» werden von 2500 Übersetzern in unzählige Sprachen transkribiert. Die Homepage erscheint in über 700 Sprachen.
Seit über 100 Jahren verkündet die Wachtturm-Gesellschaft die angeblich kurz bevorstehende Endzeit. In ihrem apokalyptischen Eifer prophezeite sie schon mehrfach das definitive Ende und nannte teilweise konkrete Endzeitdaten. Alles Pleiten, Pech und Pannen. Trotzdem halten ihre Exponenten an ihren apokalyptischen Prognosen fest.
Trotz der fundamentalistischen Auslegung der Bibel und teilweise unmenschlichen Verhaltensnormen – lieber sterben, als eine Bluttransfusion zu akzeptieren – profitieren die Zeugen Jehovas vom erstaunlichen Wohlwollen, das sie in breiten Kreisen der Gesellschaft geniessen. Die Gläubigen werden zwar als etwas übereifrige Missionare wahrgenommen, erfreuen sich aber einer recht grosse Akzeptanz.
Wer aber die Schilderungen von Aussteigern studiert, erkennt bald, dass die Wachtturm-Gesellschaft eine radikale, teilweise gnadenlose Glaubensgemeinschaft mit deutlichen Sektenmerkmalen ist.
Wer daran zweifelt, sollte das Buch «Erlöse mich von dem Bösen» der 26-jährigen Sophie Jones lesen. Die deutsche Aussteigerin beschreibt ihre Kindheit und Jugend. Ihre Schilderungen gehen unter die Haut. Jones erlebte die Hölle, die die Zeugen Jehovas den Ungläubigen am Jüngsten Tag androhen, schon zu Lebzeiten auf der Erde.
So war der Tod ihrer Grossmutter ein erstes einschneidendes Ereignis. Da diese mit den Zeugen nichts zu tun haben wollte, glaubte Sophie, ihre Oma werde bei Harmagedon verloren sein. Wörtlich schreibt die Aussteigerin: «Im ‹Krieg des grossen Tages Gottes, des Allmächtigen›, in dieser Schlacht werden die bösen Menschen vernichtet.» Sophie liebte aber ihre Oma, und konnte nicht verstehen, dass sie nicht gerettet werden sollte.
Schwer auf ihr lastete auch der eingeimpfte Glaube, dass Gott alles sehe und sogar ihr Gedanken lesen könne. Jedes Abweichen von der radikalen Norm der Zeugen löste bei ihr Gewissensbisse und Ängste aus. Sie befürchtete ein Sündenregister, das bei Harmagedon zur Verdammnis führen könnte.
Es begann schon damit, dass sie einer Klassenkollegin zum Geburtstag gratulierte. Das war eigentlich nicht erlaubt, weil die Zeugen Geburtstage nicht feiern. Solche Huldigungen sind einzig Gott vorbehalten. Sophie tat es trotzdem, weil sie Angst hatte, in der Schule noch mehr gehänselt, stigmatisiert und ausgegrenzt zu werden. «Ich wurde von Schuldgefühlen zerfressen, weil ich Gott enttäuschte», schreibt Sophie Jones.
Wenn sie die teilweise unmenschlichen Anforderungen nicht einhalten konnte, glaubte sie, der Macht des Satans erlegen zu sein. So war es ihr von der Mutter und den Ältesten eingetrichtert worden. Oft kam es deswegen zum Streit mit ihrer Mama. Zuwendung bekam Sophie nur, wenn sie sich gottgefällig verhielt.
Ihre Mutter richtete ihr Leben konsequent auf Gott aus. Ihre ganze Liebe gehörte Gott, den sie abgöttisch verehrte. Sie richtete Sophie förmlich ab, ihr Leben Gott zu weihen und zu opfern. Kontrolle und Liebesentzug waren die zentralen Erziehungsmethoden. Wenn ihre Tochter nicht gehorchte, war es ein Verrat an Gott. Als stelle sich Sophie zwischen sie und Gott.
«Sie schrie nicht mehr, sondern brüllte», schreibt Sophie Jones. «Sie wollte mir den Teufel austreiben. Sie war überzeugt davon, dass ich in den Fängen des Satans gelandet war, dass Dämonen hinter mir her waren und sie mir diese mit Schlägen austreiben musste.»
Die Aussteigerin prangert im Buch auch die Kindsmissbräuche innerhalb der Glaubensgemeinschaft an, die oft nicht bei der Polizei angezeigt oder dem Jugendamt gemeldet worden seien.
Als sich bei Sophie Jones Glaubenszweifel einstellten, nahmen ihre Gewissensbisse weiter zu. Sie glaubte, Jehova zu verraten. Sie hätte eigentlich den Kontakt zu ihrem Vater, ein angeblicher Ketzer, reduzieren oder abbrechen sollen. Nach Telefongesprächen oder kurzen Besuchen fühlte sie sich schuldig.
Um sich zu bestrafen, fügte sie sich mit einem Messer tiefe Schnittwunden zu. Das herausquillende Blut empfand sie als Wohltat, die die psychischen Schmerzen überdeckte.
Ihre Zerrissenheit schildert Sophie Jones so: «Ich hatte die Wahl zwischen Qual und Erlösung. Meine Entscheidung war getroffen. Ich wählte den Tod.» Schliesslich konnte sie die Todessehnsucht erfolgreich bekämpfen. Der Ausstieg aus der Gemeinschaft war für Sophie Jones ein jahrelanger Kampf.
Da ihr Gewissensbisse, die Isolation und soziale Ächtung – Aussteiger werden konsequent gemieden – zusetzten, kehrte sie wieder in den Schoss der Glaubensgemeinschaft zurück, was als wundersames Zeichen Gottes bejubelt wurde. Die Zweifel frassen sich aber weiter in ihr Bewusstsein, weshalb sie dann doch noch den definitiven Ausstieg schaffte.
Die Abkehr war noch einmal ein Gang durchs Fegefeuer. Schuldgefühle und Ängste verfolgten sie. Ihre Mutter wollte nichts mehr von ihr wissen. Um aus der Opferrolle herauszukommen, die Traumata zu verarbeiten und anderen Menschen ein ähnliches Schicksal zu ersparen, filmt sie YouTube-Videos und stellte sie ins Netz. Als letzten Befreiungsschlag schrieb sie das eindrückliche Buch, das beste Aufklärung ist.