Ti Amo
Gerade gestern hat sich Putin in seiner Propagandaveranstaltung wieder auf die Kirche bezogen.
Das Hoheitsgebiet von Glaubensgemeinschaften und Kirchen sind Religion und Spiritualität, Moral und Ethik. Ihre Welt ist die geistige. Um glaubwürdig zu sein, sind die Religionsführer gehalten, sich so weit als möglich aus den irdischen respektive politischen Belangen herauszuhalten.
Als Geistliche sollten sie über der weltlichen Erbsenzählerei stehen. Eine Vermischung von Religion und Macht führt zwangsläufig zu Missbrauch und Korruption.
Religionsführer sind allerdings psychisch und physisch gleich gestrickt wie durchschnittliche Zeitgenossen. Sie haben die gleichen oder ähnliche Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte.
Doch bei der Befriedigung dieser Bedürfnisse hört die Gleichheit theoretisch auf, verlangt ihr Glaube doch weitgehend Bescheidenheit, Entsagung und Verzicht auf irdische Exzesse. Manche Religionen predigen sogar Askese, andere verlangen das Zölibat zu Ehren Gottes, was letztlich die sexuelle Enthaltsamkeit bedeutet.
Doch die Umsetzung religiöser Erfordernisse ist ein übermenschlicher Kraftakt. Deshalb überrascht es nicht, dass viele Geistliche daran scheitern, die Dogmen konsequent zu leben. Das betrifft auch die Frage, wie sie mit weltlichem Einfluss und politischer Macht umgehen sollen.
Die Antwort ist aus religiöser Perspektive klar. Religion und Politik beissen sich. Doch es gibt auch unter den Religionsführern Männer mit einem ausgeprägten Machtdrang. Narzissmus macht auch vor Gläubigen nicht Halt. Deshalb klaffen ideelle Anforderungen und Realität oft auseinander.
Dies war besonders in der Vergangenheit der Fall. Im Mittelalter lebten christliche Religionsführer ihren Machtwillen hemmungslos aus. Sie nutzten ihr vermeintliches Privileg, über Himmel und Hölle entscheiden zu können, skrupellos aus. Sie erpressten Fürsten, Könige und Kaiser mit dem Ablasshandel.
Dabei ging es um ein Tauschgeschäft: Geld und Ländereien gegen einen Schlüssel zur Himmelspforte. Kirchen an den schönsten Orten in Dörfern und Städten zeugen noch heute von diesem anrüchigen Deal.
Mit der Aufklärung, der Bildung und den Menschenrechten wurden die Kirchenfürsten ermahnt, sich auf ihre christlichen Werte und religiösen Ideen zu besinnen. Der Ruf nach einer Trennung von Kirche und Staat wurde immer lauter.
Seither müssen Geistliche ihre irdischen Bedürfnisse zügeln. Schliesslich sollen die Hirten Vorbilder für die Schafe sein.
Der Wille zur Macht ist dadurch aber nicht aus der geistlichen und religiösen Welt verschwunden. Denn die Einhaltung religiöser Dogmen ist ein schwieriges Unterfangen, wie das Gebot der Enthaltsamkeit zeigt. Nur eine Minderheit der katholischen Pfarrer kann es einhalten.
Ihren Drang nach Einfluss und Macht müssen viele Geistliche aber nicht zügeln, sondern nur kanalisieren. Die katholische Kirche schuf nämlich komplexe hierarchische Strukturen, die es «Alphatieren» erlaubt, Karriere zu machen und sich mächtig zu fühlen.
Verglichen mit islamistischen Machthabern sind sie aber geradezu Musterknaben. In Afghanistan erleben wir hautnah, wie brutal islamistische Geistliche die weltliche Macht erobern, die Bevölkerung knebeln und den Gottesstaat mit Unterdrückung und Waffengewalt aufbauen. Das ist eine fatale Pervertierung von Religion und Glauben, die Not, Gewalt und Elend in die Welt bringt.
Wie sehr sich auch die orthodoxe Kirche in Russland in die Politik einmischt und zum weltlichen Machtfaktor geworden ist, demonstriert in diesen Tagen der Patriarch Kyrill von Moskau, der gleichzeitig Oberhaupt der orthodoxen Kirche Russlands ist.
Kyrill ist ein enger Vertrauter von Putin und verteidigte in einer Predigt dessen Krieg gegen die Ukraine. Gleichzeitig lässt er sich von ihm für die politische Propaganda instrumentalisieren.
Alle Appelle von orthodoxen Patriarchen ausserhalb Russlands, seinen Einfluss auf Putin geltend zu machen, perlten an ihm ab. Die Nähe zum Machtzentrum ist Kyrill wichtiger als alle christlichen Werte. Auch wenn er sich damit zum Komplizen eines kriegswütigen Diktators macht.