Das Sektendrama um die Sonnentempler vor 30 Jahren ging wie eine Schockwelle rund um die Welt. In der beschaulichen Schweiz wurden Dutzende von Sektenanhängern brutal ermordet, weitere zahlreiche Anhänger begingen auf Befehl ihres Gurus Joe Di Mambro Suizid. Sie waren ihm hörig und glaubten, dass sie damit der Apokalypse entrinnen und auf dem Planet Sirius den Weltuntergang überleben würden.
Drei Episoden, die weniger bekannt sind, zeigen exemplarisch, dass der religiöse Wahn spirituelle Sucher zu Mördern machen kann. Oder zu abhängigen Schafen, die die irren Ideen ihres Gurus für bare Münzen nehmen und sich freiwillig umbringen.
Das Sektendrama begann schleichend am 30. September 1994 in Kanada, wo die Sonnentempler einen Ableger unterhielten. Damals ahnte niemand, dass es der Beginn eines Grossereignisses war, dessen Epizentrum in der Schweiz liegen und 74 Menschenleben fordern würde.
Auslöser war eine Nichtigkeit: Der Name eines Kindes. Das Ehepaar Nicky und Antonio Dutoit-Robinson, das zwei Häuser des Gurus im kanadischen Morin Heights betreute, hatte seinen Sohn im Juli 1994 Emmanuel getauft. Den gleichen Namen in der weiblichen Form trug Joe Di Mambros Tochter, die in der Sekte als «kosmisches Kind» vergöttert wurde.
Der Guru tobte. Die Eltern sollten gebührlich für die anmassende Namenswahl bestraft werden. Er heckte einen Plan aus und gab dem 35-jährigen Schweizer Joel Egger einen unheimlichen Auftrag.
Am 30. September 1994 reiste Egger zusammen mit seiner Komplizin Dominique Bellaton nach Morin Heights. Sie lenkte die Mutter des Babys in der Küche ab, während Egger den Vater ein Stockwerk höher mit einem Küchenmesser ritualmässig mit 50 Messerstichen tötete.
Anschliessend brachte Bellaton die Mutter mit acht Stichen um, welche die acht Gesetze der Sonnentempler symbolisierten. Ausserdem schlitzte sie die Brüste der Ermordeten auf, weil damit laut Guru der Antichrist gesäugt worden war. Schliesslich tötete sie den dreimonatigen Emmanuel mit sechs Stichen ins Herz.
Während die beiden Mörder seelenruhig in die Schweiz zurückflogen, verwischten zwei andere in Kanada lebende Schweizer Kultmitglieder die Spuren, nahmen Drogen und setzten das Haus in Brand. Sie kamen in den Flammen um, begingen also Suizid.
Polizei und Justiz standen vor einem Rätsel. Ein Brand mit drei ermordeten Personen und zwei verkohlten Leichen, die möglicherweise die Mörder waren? Das gab es in der Kriminalgeschichte wohl noch nie.
Die Lösung des Rätsels lieferten kurze Zeit später zwei Ereignisse in der Schweiz. Am 5. Oktober 1994 brannte im freiburgischen Cheiry ein Haus. Feuerwehr und Polizei fanden in einem unterirdischen Kultraum 23 ermordete Personen.
Kurze Zeit später brannten im Walliser Dorf Salvan zwei Chalets nieder, in denen 24 Leichen gefunden wurden, die Suizid begangen hatten oder ermordet wurden. Unter ihnen fünf Kinder, Guru Joe Di Mambro, Joel Egger und Dominique Bellaton.
Nun wurde klar, was sich in Morin Heights abgespielt hatte. Es war der Auftakt des Sektendramas gewesen. Der Guru hatte es problemlos geschafft, zwei seiner Anhängerinnen und Anhänger dazu zu bringen, in Kanada unschuldige Glaubensgeschwister zu ermorden. Zwei weitere waren bereit, die Tat zu vertuschen und ihr eigenes Leben auszulöschen. Möglich machte es die religiöse Verblendung und Konditionierung.
Erhellend sind zwei weitere Ereignisse rund um den esoterischen Orden.
Am 23. Dezember 1995 wurden im Wald oberhalb von Saint-Pierre-de-Chérennes bei Grenoble in Frankreich 16 Leichen entdeckt. Alle wiesen Schusswunden auf. Die Ermittlungen ergaben, dass zwei französische Polizisten ihre 14 Ordensbrüder und -schwestern mit einem Gewehr erschossen und sich anschliessend mit ihren Dienstpistolen selbst gerichtet hatten.
Die Leichen waren wie im Sanktuarium von Cheiry kreisförmig angeordnet. Die französischen Sonnentempler hatten den von ihrem Guru verheissenen Transit zum Planeten Sirius eigenständig vollzogen. Die Dramen in Cheiry FR und Salvan VS hatten sie nicht aus ihrem Wahn erwachen lassen.
Am 22. März 1997, gut zwei Jahre nach den Ereignissen in der Schweiz, brannte in St. Casimir in Kanada ein Landhaus nieder. Die Feuerwehr entdeckte fünf Leichen. Aus einem Nebengebäude torkelten drei verstörte Jugendliche.
Sie erklärten, ihre Eltern hätten sich zusammen mit drei weiteren Sonnentemplern auf die Reise zum verheissenen Planeten gemacht. Es sei bereits der zweite Versuch gewesen. Beim ersten hätten die Jugendlichen auch sterben sollen, doch eine Panne hatte den kollektiven Suizid verhindert.
Die Kinder bettelten danach um ihr Leben. Die Eltern verabreichten ihnen vor dem zweiten Versuch starke Beruhigungsmittel und liessen sie betäubt in einem Nebengebäude zurück.
Die Sektendramen in Kanada, der Schweiz und Frankreich hatten die fünf kanadischen Sektenmitglieder offensichtlich nicht aufgeschreckt. Vielmehr waren sie in ihrem Wahn weiterhin von der drohenden Apokalypse überzeugt. Deshalb vollzogen sie den Transit zum Planet Sirius eigenständig.
Unfassbar dabei ist auch, dass sie ihre Kinder ihrem Schicksal überliessen und dem angeblichen Weltuntergang aussetzten. Ihre spirituelle Sehnsucht war stärker als die Elternliebe und der Selbsterhaltungstrieb.
Das Sonnentempler-Drama und viele andere Massenmorde im Sektenumfeld zeigen, welche Macht Sektenführer über ihre Anhängerinnen und Anhänger erlangen können. Die religiöse Indoktrination kann zu einer wahnhaften Wesensveränderung, zu Fanatismus und zu einem Kadavergehorsam führen, wie die fünf Ereignisse rund um die Sonnentempler zeigen.
Am eindrücklichsten dokumentieren dieses Phänomen die Taten von Joel Egger und Dominique Bellaton. Der Vegetarier Egger, der keinem Tier schaden wollte, stach auf Geheiss seines Gurus 50 Mal auf seinen Ordensbruder ein. Unvorstellbar ist auch, wie Bellaton ein Baby mit mehreren Messerstichen ermorden konnte, ohne aus ihrem Sektenwahn aufzuwachen.