Der Glaube an übersinnliche Phänomene muss tief in der menschlichen DNA verankert sein. Nur so lässt sich halbwegs schlüssig erklären, wieso der Aberglaube auch heute noch in geistig, kulturell und wissenschaftlich entwickelten Gesellschaften so stark verbreitet ist. Gerade die Corona-Pandemie hat eindrücklich aufgezeigt, wie schnell auch gebildete Leute bereit sind, Fake News aus dem Reich der Verschwörungen kritiklos in ihr Weltbild zu integrieren.
Auch der weit verbreitete Glaube an esoterische Ideen offenbart einen Hang zu kruden Heilsvorstellungen. Die übersinnliche Welt vieler Esoteriker ist bevölkert von Feen, Kobolden, Einhörnern, Geistern von Verstorbenen und Hexen.
Schwer nachvollziehbar ist auch die Überzeugung, dass man als spirituell hoch entwickeltes Wesen Botschaften von göttlichen Instanzen empfangen kann oder sich von «heiligem Licht» ernähren kann und nie mehr feste Nahrung zu sich nehmen muss. Die Liste der abstrusen abergläubischen Methoden liesse sich beliebig fortsetzen.
Seit 18 Jahren warne ich in meinem Blog vor den Gefahren des Aberglaubens für Individuum und Gesellschaft. Dabei werde ich regelmässig kritisiert. Lass doch den betroffenen Leuten ihren Glauben, heisst es etwa. Sie tun ja niemandem weh. Ausserdem sei es harmlos, an übersinnliche Phänomene zu glauben.
Wirklich?
Selbstverständlich lasse ich den Abergläubigen ihren Glauben. Ausserdem ist mein Einfluss beschränkt. Es ist ja das Wesen des Aberglaubens, dass sich die Betroffenen nicht von rationalen Argumenten beeinflussen lassen.
Das ist aber kein Grund, die Sensibilisierung für die Gefahren und die Aufklärung einzustellen. Denn der Aberglaube ist ein Gift, das sich quer durch die Gesellschaft frisst. Das Aufzeigen von Hintergründen und Widersprüchen gehört zu den vornehmen Aufgaben des Journalismus und kann allenfalls Menschen zum Nachdenken bringen, die sich noch nie näher mit den skurrilen Formen des Aberglaubens auseinandergesetzt haben.
Aufklärung ist in diesem Fall auch die Vermittlung von Gegeninformationen. Da die Esoterik und der Glaube an paranormale Phänomene im deutschsprachigen Raum ein Milliardengeschäft ist und Zehntausende von Anbietern ein professionelles Marketing betreiben, um Kunden zu ködern, müssen ihre unrealistischen und teilweise gefährlichen Praktiken aufgedeckt werden.
Ich habe in den letzten 50 Jahren oft erlebt, dass Leserinnen und Leser dank meiner Artikel nicht in die Sektenfalle getappt sind, wie sie mir hinterher berichteten. Denn der Aberglaube ist ein wichtiger Katalysator bei der Gründung von sektenhaften Gruppen und dem Aushecken von Heilsmethoden.
Dass der Aberglaube nicht nur ein individuelles und soziales Problem sein kann, sondern auch ein ökonomisches, dokumentiert eine Studie, die vor ein paar Jahren veröffentlicht wurde. Der amerikanische Wissenschaftler Boris Gershman von der American University in Washington stellte einen Datensatz zusammen, der rund 140'000 Menschen aus 95 Ländern und Regionen umfasst.
Dabei ging es um die Frage, wie weit der Glaube an schwarze Magie, speziell an die Hexerei, verbreitet ist. Die zentrale Aussage der umfassenden Studie: 40 Prozent der weltweiten Bevölkerung glaubt an die Hexerei.
Die Unterschiede bei den einzelnen Ländern sind allerdings erheblich: In Tunesien glauben 90 Prozent der Befragten an das übersinnliche Phänomen, in Schweden und Dänemark liegt die Quote bei 9 Prozent, in Deutschland bei 13, wie das internationale Online-Fachmagazin PLOS One schreibt. In der Schweiz dürften die Zahlen in einem ähnlichen Bereich liegen.
Bei den Umfragen wurde unter anderem folgende Frage gestellt: «Glauben Sie an den bösen Blick oder daran, dass bestimmte Menschen dazu fähig sind, Flüche oder Zaubersprüche auszusprechen, die anderen Schaden zufügen?»
Wenig überraschend ist laut Studie, dass Leute mit einem niedrigen Bildungsniveau und einem tiefen Einkommen eher dazu neigen, dem Hexenglauben anzuhängen. Eher überraschend ist hingegen die Erkenntnis, dass Personen, die an Gott glauben, auch überdurchschnittlich an die Hexerei glauben. Und zwar unabhängig der Konfession.
Eine mögliche Interpretation: Wer an Gott glaubt, ist eher offen für andere übersinnliche Phänomene.
Gershman kommt zum Schluss, dass der Glaube an Hexerei in Ländern mit grosser Korruption und schlechter politischer Führung besonders stark verbreitet ist. Dies habe vor allem damit zu tun, dass die Leute Polizei und Justiz nicht vertrauen würden. Entsprechend gering sei ihr Lebensmut. Das Gefühl der Ohnmacht begünstige den Glauben an übernatürliche Mächte.
Die Angst vor der Macht der Hexen führt laut der Studie zu einer Überanpassung und einem konformistischen Verhalten. «Diese Einstellung erstickt jede Kreativität im Keim, die für Innovationen, unternehmerische Kultur und den damit verbundenen wirtschaftlichen Fortschritt und Erfolg unverzichtbar ist. Weil das Vertrauen in die Mitmenschen fehlt, werden zudem weniger Geschäftsbeziehungen eingegangen und unternehmerische Risiken vermieden», schreibt «National Geographic» in einem Artikel zur Studie.
Studienleiter Boris Gershman erklärt, dass der Hexenglaube den grössten Schaden auf der zwischenmenschlichen Ebene anrichtet. Das allgemeine Misstrauen führe zu einem unterkühlten sozialen Klima.
Die Studie bestätigt meine Erfahrungen, dass der Aberglaube den Realitätssinn untergräbt. Und dass die Betroffenen in eine Scheinwelt abrutschen und sich sozial isolieren. Dies kann zu einer Entfremdung in vielen Lebensbereichen führen.
Da stellt sich eine Frage, die die Studie nicht beantwortet: Wo liegt die Grenze zwischen Aberglauben und Glauben? Man liegt wohl nicht falsch, wenn man behauptet, dass die Übergänge fliessend sind.