Mehr als 230'000 Menschen wurden seit Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs getötet, über neun Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht, der islamische Staat nutzte das Machtvakuum im Osten und avancierte zur regionalen Grösse: Die Syrien-Krise hat sich zur grössten humanitären Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt und dabei den gesamten Nahen Osten ins Chaos gestürzt.
Syrien selber ist nur noch ein Flickenteppich, auf dem sich rivalisierende Gruppierungen mit aller Brutalität bekämpfen: Von der syrischen Armee über die oppositionelle Freie Syrische Armee bis hin zu salafistischen Gruppen und dem IS.
Hätte der Zusammenbruch in Syrien verhindert werden können? Der ehemalige finnische Präsident Martti Ahtisaari meint: womöglich.
Rückblende, Syrien, Februar 2012: Die Ausläufer des arabischen Frühlings 2011 haben in der Levante zu einem erbitterten Bürgerkrieg geführt. Der Alawite Baschar al-Assad, der das Land seit dem Tod seines Vaters mit eiserner Hand regiert, hat die anfänglich friedlichen Proteste brutal niederschlagen lassen. Oppositionsgruppen reagieren auf das repressive Vorgehen des Regimes mit bewaffneten Aufständen. Zu diesem Zeitpunkt hat der Konflikt knapp 7500 Menschenleben gefordert. Die Fronten sind verhärtet, aber noch nicht so unübersichtlich wie 2015. Der Islamische Staat sollte in Syrien erst zwei Jahre später auf der Landkarte erscheinen.
«Der Westen hatte es in der Hand, Präsident Assad zum Rücktritt zu bewegen.» Das sagt der ehemalige finnische Präsident Martti Ahtisaari im Gespräch mit dem Guardian. Ahtisaari hatte sich als Krisendiplomat in Namibia, Kosovo und dem Irak einen Namen gemacht. 2012 nahm der Nobelpreisträger an Gesprächen zwischen den Abgesandten der fünf Mitglieder des UN-Sicherheitsrats statt. Auf der Traktandenliste stand die Syrien-Krise. Den USA, Frankreich und Grossbritannien standen China und Russland gegenüber. Erstere wollten Assad so schnell wie möglich von der Macht entfernen, China pochte auf das Souveränitätsprinzip und verbat sich jegliches Eingreifen in das innersyrische Machtgefüge. Russland zeigte sich zwar offen für diplomatische Vorstösse, stärkte Assad aber zumindest in der Öffentlichkeit den Rücken.
Dann aber tat sich eine Gelegenheit auf. «Ich sprach mit dem russischen UN-Botschafter Witali Tschurkin», erinnert sich Ahtisaari. «Wir stimmten in vielem nicht überein, aber wir konnten offen über alles reden. Er sagte mir drei Dinge: ‹Erstens: Wir sollten der Opposition keine Waffen liefern. Zweitens: Wir sollten einen Dialog zwischen dem Regime und der Opposition initiieren. Drittens: Wir sollten einen eleganten Weg finden, um Assad den Rücktritt zu ermöglichen.›»
Ahtisaari zeigt sich überzeugt, dass Tschurkin im Namen des Kremls sprach. Der Westen aber wollte zu diesem Zeitpunkt nichts von einem Deal mit Russland wissen. Denn: Die USA, Frankreich und Grossbritannien waren überzeugt, dass es ohnehin nur eine Frage der Zeit sei, bis Assad gestürzt werde.
Der Plan des Westens ging nicht auf. Je länger der Konflikt dauerte, desto klarer wurde, dass die untereinander heillos zerstrittenen Oppositionsgruppen nicht in der Lage sind, den syrischen Machthaber zu stürzen. Mittlerweile sitzt der syrische Diktator wieder einigermassen fest im Sattel – auch dank russischer Unterstützung. Rüstungsgüter, Militärberater, Propaganda-Aktionen: Der Kreml macht keinen Hehl aus der militärischen Unterstützung Assads. Unklar ist bloss, ob Moskau auch eigene Truppen im Syrien-Konflikt einsetzt: Die Hinweise verdichten sich, Bestätigungen gibt es bislang jedoch nicht. Signale aus Moskau, den syrischen Verbündeten auf dem Altar geopolitischer Strategien zu opfern, sind längst nicht mehr auszumachen.
Nicht alle teilen jedoch Ahtisaaris Einschätzung. Sir John Jenkins, ein ehemaliger hochrangiger Mitarbeiter des britischen Aussenministeriums, sagte gegenüber dem «Guardian», dass Russland nie bereit gewesen sei, das Schicksal Assads auf den Verhandlungstisch zu bringen. Der syrische Präsident sei für den Kreml immer unantastbar gewesen. Jenkins bezweifelt auch, dass Tschurkin – falls er denn gegenüber Ahtisaari tatsächlich Assad ins Spiel gebracht hatte – mit dem Segen Putins gesprochen habe.
Spätestens mit den Flüchtlingsströmen nach Europa hat sich die Syrien-Krise zu einem globalen Konflikt entwickelt. Die westlichen Staaten zahlten nun den Tribut für ihr Versagen in der Konfliktlösung, so Ahtisaari. «Es gibt keine andere Möglichkeit, als diesen Menschen jetzt zu helfen». Das Vermächtnis des Westens in der Syrien-Krise sind die Hunderttausenden Flüchtlinge, die nun nach Europa strömen. (wst)
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