Sie hissen die türkische Flagge und jubeln in die Kamera. Türkische Soldaten und verbündete Kämpfer erobern die syrische Kurden-Stadt Afrin. Für Erdogan ein Sieg, für die Kurden eine bittere Zäsur.
Die Kämpfer stehen auf dem Balkon eines zentralen Verwaltungsgebäudes im nordwestsyrischen Afrin, haben die türkische Flagge ausgerollt und schwenken die grün-weiss-schwarze Flagge der syrischen Opposition. Einer erklärt, die Einnahme der kurdischen Stadt sei ein «Geschenk» an die türkische Nation zum Märtyrertag. An andere Stelle hisst ein Soldat die türkische Fahne gegen den strahlend blauen Himmel.
Die Videos, die die türkischen Streitkräfte am Sonntag verbreiten, untermalen, was ihr Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zuvor verkündet hatte: Die Einnahme Afrins durch die türkische Armee und die mit ihr verbündeten Kämpfer der Freien Syrischen Armee (FSA).
Die FSA verbreitete ebenfalls Siegervideos: «Afrin ist von Terror befreit», prahlt ein Kämpfer mit Sonnenbrille auf den Augen und Waffe in der Hand. «Afrin kehrt zur syrischen Revolution zurück. Es wird hier Freiheit und Gerechtigkeit geben.»
Für die FSA und Erdogan ist die Einnahme Afrins ein Sieg über eine «Terrororganisation». Für die Kurden dagegen ist er eine Zäsur und ein Rückschlag für das Projekt Selbstverwaltung in Nordsyrien.
Der «Tag der Märtyrer», auf den die Kämpfer sich in dem Video berufen, hat in der Türkei Symbolkraft. Sie gedenkt am 18. März der Schlacht von Gallipoli im Ersten Weltkrieg. Damals wehrte die Osmanische Armee die Invasion der türkischen Halbinsel durch die Entente-Mächte ab.
Erdogans Ziel war, die Kurdenmiliz YPG, die aus seiner Sicht eine Terrororganisation ist, aus der Region Afrin zu vertreiben. Das hat er nun erreicht. Entgegen der Kritik, dass die am 20. Januar begonnene Militäroffensive völkerrechtswidrig sei, hatte die türkische Führung sich immer wieder auf Selbstverteidigung berufen.
Turkish forces and Syrian allies drive Kurds from Afrin https://t.co/MKQT5HEkFK pic.twitter.com/XVmHtJff3w
— Crusader Journal (@CrusaderJournal) 18. März 2018
Die YPG ist aus Sicht Ankaras der syrische Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und der Türkei seit langem ein Dorn im Auge. Die PKK, die auch in den USA und der EU auf der Terrorliste steht, verübt immer wieder Anschläge in der Türkei. Aus türkischer Sicht wurde der PKK mit der Einnahme Afrins auch ein Rückzugsraum in Syrien genommen.
Erdogan dürfte es aber auch darum gegangen sein, dem Wunsch nach mehr Selbstbestimmung der Kurden im eigenen Land einen Dämpfer zu verpassen. Erdogan sagte denn auch nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu an die Adresse der YPG: «Ein Grossteil der Terroristen haben ihren Schwanz eingezogen und sind geflohen.»
Am Ende leistete die Kurdenmiliz offensichtlich kaum noch Widerstand und brach schneller zusammen, als es Beobachter vorher angenommen hatten, zu gross waren ihre Verluste seit dem Beginn der Militäroperation vor rund zwei Monaten.
Bis auf wenige Kämpfer, die nicht aufgeben wollten, hat sich die YPG nach Angaben der Beobachtungsstelle für Menschenrechte vollständig aus Afrin zurückgezogen. Gegen die Übermacht der modernen türkische Armee hatten sie keine Chance.
Lange Zeit galten die Kurden in dem blutigen syrischen Bürgerkrieg als einer der wenigen Gewinner. Schon unter Hafis al-Assad, dem Vater des heutigen Machthabers Baschar al-Assad, wurden die Kurden unterdrückt. Viele von ihnen hatten etwa bis vor wenigen Jahren noch nicht einmal einen syrischen Pass.
Doch im Zuge des Bürgerkriegs und des Kampfes gegen den IS konnte die YPG grosse Teile Nordsyriens einnehmen und dort eine «Selbstverwaltung» errichten. Gleichzeitig entwickelte sie sich in Syrien zum wichtigsten Partner der USA und des Westens im Kampf gegen den IS.
Doch mit Afrin verlieren die Kurden nun ein Gebiet, das sie als ihr Kernland betrachten. Der Syrien-Fachmann Fabrice Balanche vom renommierten Washington Institute nannte Afrin in einer Analyse ein «homogenes kurdisches Gebiet» mit fast 100 Prozent kurdischer Bevölkerung. Während des Bürgerkriegs flohen zudem viele Kurden in diese Grenzregion.
Nicht ganz klar ist, wie es nun mit Afrin weitergehen soll. Die türkische Führung betont zwar seit Wochen, dass sie Afrin nicht dauerhaft besetzen will, hat aber auch ausgeschlossen, das Gebiet an Assad zurückzugeben.
Am Ende könnte die FSA für die Türkei das Gebiet an ihrer Grenze halten. Die Führung in Ankara hatte zudem mehrmals angekündigt, nach dem Sieg in Afrin weiter Richtung Osten in die anderen von den Kurden kontrollierten Gebiete vorzurücken.
Unter den Kurden dürfte sich einmal mehr das Gefühl breitmachen, vom Rest der Welt im Stich gelassen zu werden. Russland, eigentlich in guter Beziehung zur YPG, tat nichts, um die Türkei von der Offensive abzuhalten und zog vorher sogar seine Beobachter aus der Region ab.
Wie es nun weitergeht, hängt vom Verhalten Washingtons ab. Werden die USA einen weiteren Vormarsch der Türkei Richtung Osten verhindern? Oder werden sie ihre Kräfte in Nordsyrien nach Hause beordern?
Dann wären die Kurden praktisch auf sich allein gestellt. Selbst eine weitere Annäherung an Syriens Regierung würde ihre Lage kaum verbessern, da Assads Truppen nach sieben Jahren Bürgerkrieg zu ausgelaugt sind, um Ankaras Armee aufhalten zu können. (sda/dpa)