Mögt ihr euch noch erinnern? 2016 – dieses Jahr wurde zum Punk-Jubiläums-Jahr gekührt. Dies, weil am 26. November 1976 die Sex Pistols ihre Debut-Single «Anarchy in the UK» veröffentlicht hatten:
Ohne die heute kaum vorstellbare Schockwirkung verniedlichen zu wollen, welche von dieser Scheibe ausging, muss man dennoch konstatieren: Als die britische Presse sich über den Skandal der Majestätsbeleidigung ausliess, zeigten sich vier Jungs aus dem New Yorker Stadtteil Queens eher mässig beeindruckt. Sie hatten bereits im Februar 1976 ihre erste Single veröffentlicht. Und im April danach ihr erstes Album. Ladies and Gentlemen, The Ramones:
Gegründet, indes, wurden die Ramones bereits zwei Jahre zuvor. Wir haben sogar ein genaues Datum:
Am 28. Januar 1974 fanden sich John Cummings, Thomas Erdelyi, Douglas Colvin und Jeffrey Hyman in Manhattans Performance Studios zu einer Bandprobe ein. Die vier Jungs kannten sich bereits ein paar Jahre – sie waren alles aus demselben Stadtteil Forest Hills im New Yorker Borough Queens. Cummings und Erdelyi hatten zusammen eine Highschool-Band gehabt; Hyman war Sänger in einer Glamrock-Band. Jenes neue Bandprojekt, für das sich die Jungs im Januar 1974 einfanden, hatte bereits einige Konzeptänderungen erfahren (Hyman sollte anfänglich Schlagzeug spielen, etwa), doch an jenem Tag einigte man sich auf die Besetzung. Und: Douglas Colvin verkündete, er wolle den Künstlernamen Dee Dee Ramone annehmen.
Die Inspiration hinter dem Pseudonym war Paul McCartneys alter Übername Paul Ramon gewesen, den er in den Anfangstagen der Beatles im Jahr 1960 verwendete, als die Gruppe noch unter dem Namen The Silver Beetles unterwegs war. Hyman und Cummings schlossen sich Colvins Beispiel an und wurden zu Joey und Johnny Ramone. Erdelyi, hingegen, hatte keine Musikerambitionen und wollte lieber als Manager der Band im Hintergrund agieren. Doch bei Castings zukünftiger Drummer musste er sich oft ans Schlagzeug setzen, um zu demonstrieren, wie die Songs gespielt werden sollten. Bald wurde deutlich, dass er den Schlagzeugstil der Band besser beherrschte als jeder andere – und er trat der Band als Tommy Ramone bei.
Das erste Konzert spielten The Ramones am 30. März 1974 in Performance Studios. Einen nachhaltigeren Einfluss sollte aber ihr erster Auftritt im Club CBGB's am 16. August 1974 haben. Legs McNeil, der im darauffolgenden Jahr das Magazin «Punk» mitgründete, beschrieb die Wirkung dieses Auftritts: «Sie trugen alle diese schwarzen Lederjacken. Und sie zählten diesen Song ab ... und es war einfach diese Wand aus Lärm ... Sie sahen so unglaublich gut aus. Diese Typen waren keine Hippies. Das war etwas völlig Neues.»
Eine Kultband war geboren, das Publikumsinteresse geweckt. In der Folge spielten The Ramones bis zum Ende des Jahres 74 Mal im CBGB's. Und in ihrem Kielwasser entstand eine Unmenge von Bands, die alsbald jene neue und aufstrebende New York Punk Scene ausmachten: Blondie, The Dictators, Talking Heads, The Dead Boys uvm.
The Ramones waren, sind und bleiben, auch 28 Jahre nach ihrer Auflösung 1996, eine der einflussreichsten Bands der Musikgeschichte. Dafür gibt es eindeutige Gründe:
«I Don't Wanna Go Down to the Basement» ist der längste Track des Debut-Albums «Ramones». Er ist 2 Minuten, 35 Sekunden lang. «Havanna Affair» ist knapp 2 Minuten lang, während «Judy Is a Punk» auf 1:32 kommt. Und das ist gut so.
Damals, in einer Zeit, als sich Art-Rock- und Progressive-Rock-Bands pompöse Konzept-Doppelalben auf Vinyl pressten und ihre Ernsthaftigkeit mit 10-minütigen Gitarrensoli zu betonen bedachten, brachten die Ramones den Rock 'n' Roll auf den Punkt.
Frag mal in deinem Musiker-Kollegenkreis umher – genauer: bei Gitarristen – und du wirst feststellen: Leadgitarristen mögen die Ramones nicht. «Zu primitiv», lautet oftmals ihre Begründung. Der wahre Grund: Die Ramones bewiesen, dass es keine Gitarrensoli braucht. Dein Herumgefidel an deiner Phallusverlängerung wird die Mädchen nicht zum Tanzen bringen, werter Guitar Hero! Aber den vier hässlichen Siechern mit ihren angeblich primitiven Songs mangelte es nie an weiblichen Fans.
Allzu oft wurde die Musik der Ramones als «dumm» abgetan: Ein paar Punks, die schlicht nicht besser spielen können und deshalb 2-Minuten-Tracks raushauen, die einander alle ähneln.
Und dann gab es die alternative Sichtweise. Die, nämlich, dass hier Konzeptkünstler am Werk sind, die bewusst einen musikalischen Ultraminimalismus betreiben. Kreativitätsverweigerung als Protest, gewissermassen.
Ach was!
Der Anspruch der Band war nie intellektuell. Aber auch nie dumm. Letztendlich wollten sie Rock 'n' Roll spielen. Und das machten sie wie keine anderen.
Am Anfang ihrer Karriere hatten die Ramones stets dasselbe Problem mit Konzertveranstaltern: Ihr Set war bereits nach 17 Minuten fertig, gebucht waren sie aber für ein 30-Minuten-Set worden. «Wir haben unseren Vertrag erfüllt und unser 30-Minuten-Set gespielt», so Schlagzeuger Tommy Ramone, «einfach schneller – in 17 Minuten.»
Obwohl das optische Konzept der Band darauf aus war, das Uniformelle zu betonen, waren die einzelnen Mitglieder so verschieden wie nur möglich.
Gitarrist Johnny Ramone, etwa, war ein richtiger Rechtsaussen-Arsch. Ich glaube, das darf man so sagen. Sänger Joey Ramone schrieb den Song «The KKK Took My Baby Away» über ihn, als seine damalige Freundin Linda ihn für Johnny verliess. Die Ku-Klux-Klan-Referenz deshalb, weil Johnny ein ziemlich mieser Rassist war, der Joey wegen seiner jüdischen Herkunft stets verspottete.
Aber man darf davon ausgehen, dass Johnny die Anspielung in besagtem Song ohnehin gar nie checkte. Auch erkannte er, der stramme Republikaner, den Anti-Reagan-Song «Bonzo Goes to Bitburg» erst als solchen, als dieser begann, die Charts hochzuklettern. Too late, Johnny! Ätsch!
Die Tatsache, dass Johnny und Joey wegen solchen Spannungen über Jahrzehnte nie miteinander sprachen, trotzdem aber fleissig tourten und Alben aufnahmen, ist eine der vielen Geschichtsstränge der dysfunktionalen Ramones-Familie, die eine herrliche Soap-Opera hergeben.
Derweil hatte Bassist Dee Dee Ramone, nebst Joey der andere kreative Kopf der Band, zeitlebens mit Drogenproblemen zu kämpfen und trieb Leute wie Manager Monte Melnick zur Verzweiflung, wenn er einmal mehr in einer wildfremden Stadt stundenlang verschwunden war, um dann knapp fünf Minuten vor Showbeginn wieder aufzukreuzen. Mit der Zeit hielt Dee Dee die Spannungen innerhalb der Band (vor allem zu Johnny) nicht mehr aus und trat zurück, belieferte sie aber weiterhin fleissig mit Songs.
Die Ramones erreichten mit keinem ihrer Alben Gold-Status. Eine der demoralisierendsten Musikbiz-Statistiken besagt, dass «The Young and Hopeless», das Debut-Album von Good Charlotte, sich 4,9 Millionen Mal verkaufte – und damit zehn Mal mehr als alle Ramones-Alben zusammen.
Das muss man sich mal vor Augen führen: Eine grauenhafte Pop-Parodie einer Punkband, vier südkalifornische Poser aus gut situierten Familien, die alles – aber wirklich alles – an ihrem Stil den Ramones verdanken, verkaufen mit einem Album das Zehnfache des gesamten Katalogs der ihrer Urväter.
Aber vielleicht obsiegt am Ende doch die Gerechtigkeit – zumindest moralisch. Good Charlotte kennt heute kaum wer, während die Ramones zum globalen kulturellen Unterbewusstsein gehören.
Nachteilig daran ist, dass die Klientel von angesagten Zürcher Clubs oftmals der Meinung ist, «Ramones» sei eine T-Shirt-Marke. Ähnlich wie Motörhead. Oder Misfits.
Aber dafür sind die Ramones, 50 Jahre nach ihrer Bandgründung, 48 Jahre nach Veröffentlichung ihrer ersten Platten, 28 Jahre nach dem letzten ihrer 2263 Konzerte 1996 und zehn Jahre nach dem Tod ihres letzten Gründungsmitglieds Tommy 2014 (Joey verstarb 2001, Dee Dee 2002, Johnny 2004), so präsent wie noch nie. Und alle, aber wirklich auch alle, Punkbands, die nach 1977 gegründet wurden, schulden den Ramones eigentlich ... alles.
And if Lemmy pays his respect, so should you:
Hey ho, let's go.