Früher hiess es mal: Das Radio macht die Hits. Später hiess es: Das Radio spielt die Hits. Und heute? Das Radio spielt sie nicht einmal mehr. Auf Platz 1 der Single-Charts stand letzte Woche Capital Bra mit «Prinzessa», doch im vergangenen Monat wurde der Song genau einmal gespielt: In der Hitparadensendung.
Der erfolgreichste Song der Schweiz findet am Radio nicht statt. Nicht nur auf SRF 3 nicht, sondern auf allen Radiostationen des Landes.
Wer Capital Bra hören will, muss das auf anderen Kanälen tun. Und ganz offensichtlich tun das die jungen Hörer. Auf Spotify hat «Prinzessa» weit über 10 Millionen Klicks. Im Resultat bedeutet das Platz 1 in den Charts – ohne jegliches Radio-Airplay.
Bei SRF 3 werden Songs mit anstössigem Inhalt in der Chartshow gespielt, aber in der Anmoderation weist der Moderator darauf hin, dass der nachfolgende Song anstössige Inhalte vermittelt, erklärt Michael Schuler, Leiter der SRF-Musikredaktion.
In Capital Bras Texten geht es oft um Drogen, Frauen, Sex, Gewalt. «Prinzessa» wäre da eigentlich sogar noch eines der harmloseren Lieder, «Hurentochter» ist mit Abstand expliziter. Gemessen an den omnipräsenten «Bitches» und «Motherfuckers» in englischen Texten ist dies aber herzlich harmlos – Capital Bras Nachteil ist, dass man ihn versteht.
Ganz allgemein ist derzeit gerade im deutschen Rap eine Verrohung der Sprache zu beobachten. Wo es früher um Wortspiele ging, dreht sich nun vieles um Angebereien, Gewalt und Drogen. Der letztjährige «Echo»- Skandal um Kollegah und Farid Bang war da nur die Spitze des Eisbergs.
Was die Radios vor eine Herausforderung stellt, ist die Tatsache, dass genau diese Musik am meisten gehört wird auf den Streaming-Diensten. In den Schweizer Spotify-Charts rangieren sehr viele sehr explizite Songs ganz vorne – im hiesigen Radio kommen diese höchst selten bis gar nicht vor. Überspitzt könnte man sagen, dass die Radiostationen an ihrem Publikum vorbeisenden.
Schuler verneint das: «Es gibt Hörerbefragungen, die interessanterweise aussagen, dass auch eigentliche Fans solcher Musik diese nicht unbedingt am Radio hören wollen.» Dabei gehe es um Abgrenzung: «Was ich daheim höre und was am Radio, sind für viele Junge zwei paar Schuhe», erklärt Schuler.
Aber natürlich, so räumt auch der SRF-Musikchef ein, diskutiere man in der Redaktion immer wieder über solche Themen. «Nur weil wir es heute nicht spielen, heisst es nicht, dass wir das in zwei Wochen immer noch nicht tun», so Schuler. Momentan habe das Musikgremium entschieden, dass Capital Bra und Co. nicht zum Musikprofil eines SRF 3 passen.
«Die neue Messbarkeit macht es manchmal schwierig, solche Entscheidungen zu treffen», sagt Schuler. Per Klick- und Streamingzahlen sehe man, dass dieser Song gehört werde, «da braucht es durchaus auch Mut zu sagen: Der passt nicht zu uns. Schliesslich ist jeder Radiosender auf Reichweite angewiesen.» Im Moment glaubt Schuler aber, dass man mit solchen Songs mehr Hörer vertreiben würde, als neue zu gewinnen.
Trotzdem: Wäre es nicht auch Aufgabe gerade eines Service-public-Senders, das abzubilden, was im Land gehört wird? Schuler winkt ab: «Wenn 25 Prozent der Bevölkerung diese Musik hören, sind es immer noch 75 Prozent, die das nicht tun.»
Gerade bei polarisierender Musik müsse man «gewisse Grenzen ziehen, ohne deswegen eine Zensurbehörde zu sein». Das Phänomen sei auch nicht ganz neu, so Schuler, «Ein Stern» von DJ Ötzi habe SRF 3 zum Beispiel vergleichsweise nur rund 50 Mal gespielt – «jedes Mal, wenn er in den Charts war. Sonst hat er nicht in das Programm von Radio SRF 3 gepasst.»
Was Schuler auch weiss: Die Zeiten ändern sich. Vieles, was den Radiostationen früher zu progressiv und krawallig war, läuft zehn Jahre später wie selbstverständlich im Tagesprogramm. Bestes Beispiel ist «Je t’aime … moi non plus» von Jane Birkin und Serge Gainsbourg. Spätestens als «Oldie» wird dann wohl dereinst sogar «Prinzessa» von Capital Bra auf SRF 3 gespielt werden.(aargauerzeitung.ch)