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Die Kantone schaffen Kriminelle unterschiedlich aus.

Die Kantone schaffen Kriminelle unterschiedlich aus.
Die Kantone schaffen Kriminelle unterschiedlich aus.
Bild: JONATHAN ALCORN/REUTERS

Appenzell 0, Tessin 117: So unterschiedlich schaffen die Kantone kriminelle Ausländer aus

Auf einen weggewiesenen Straftäter kommen schweizweit 49 kriminelle Ausländer, die bleiben dürfen. Doch zwischen den Kantonen gibt es riesige Unterschiede: Die beiden Basel zum Beispiel sind streng, der Aargau eher lasch. Wir präsentieren exklusive Zahlen.
29.01.2016, 07:5229.01.2016, 08:15
David Egger / aargauer zeitung 

Wenn ein Ausländer straffällig wird, spielt es für ihn eine grosse Rolle, in welchem Kanton er wohnt. Denn zurzeit entscheiden noch die kantonalen Migrationsbehörden, ob er sein Aufenthaltsrecht verliert. Und jeder Kanton entscheidet anders.

Besonders augenfällig sind die Unterschiede in der Nordwestschweiz: So wurden im Aargau im Jahr 2014 viermal mehr Ausländer verurteilt als im Kanton Baselland. Dennoch haben die Kantone fast gleich vielen Ausländern das Aufenthaltsrecht entzogen: Im Aargau waren es 34, in Baselland 30. Anders ausgedrückt: Im Kanton Aargau hat nur jeder 80. kriminelle Ausländer wegen seiner Straftat sein Aufenthaltsrecht verloren, in Baselland war es hingegen jeder 23.

Und es gibt noch grössere Unterschiede: Basel-Stadt verweist jeden 25. kriminellen Ausländer des Landes, Zürich und Solothurn jeden 36., in Genf jedoch ist es nur jeder 117.! In Bern wird gar nur jeder 244. Kriminelle ausgeschafft – allerdings sind in dieser Statistik die Städte Bern, Biel und Thun nicht enthalten.

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bild: az

Die «Nordwestschweiz» hat diese Zahlen bei den Migrationsämtern aller Kantone erfragt, da der Bund sie nicht erfasst. Nur zwei Ämter verweigerten die Auskunft. Die frappanten Unterschiede lassen aufhorchen. Trotzdem gibt es von den Migrationsämtern keine Erklärung dazu. Sie halten einzig fest, dass sie sich an die Praxis des Bundesgerichts halten würden, wie es auf Anfrage heisst.

Beamte und Richter nutzen Ermessensspielraum verschieden

Ein Grund für die Unterschiede dürfte darin liegen, dass in manchen Kantonen mehr schwere Delikte begangen werden als in anderen. Dieser Faktor alleine erklärt jedoch nicht alles. Einen weiteren Grund kennt Marcel Suter, Präsident der Vereinigung der kantonalen Migrationsbehörden. Er sagt: «Grund für die Unterschiede ist das rechtsstaatliche Verhältnismässigkeitsprinzip. Diesen Ermessensspielraum nutzen Richter und Migrationsämter verschieden. Das ist menschlich.»

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Das bedeutet: In manchen Kantonen sind die zuständigen Beamten und Richter nachsichtiger mit kriminellen Ausländern als in anderen. Gesamtschweizerisch verlor 2014 jeder 50. kriminelle Ausländer sein Aufenthaltsrecht. Damit lässt sich eine brisante Zahlenspielerei betreiben: Die Rückfallrate unter Kriminellen ist seit Jahrzehnten stabil: Sie liegt bei gut 25 Prozent.

Das bedeutet, statistisch gesehen, dass von den 49 kriminellen Ausländern, die pro weggewiesenen Ausländer in der Schweiz bleiben dürfen, mehr als 10 rückfällig werden.Mit der Durchsetzungsinitiative der SVP, über die das Volk am 28. Februar abstimmt, besteht für diese Kriminellen ein hohes Risiko, das Land verlassen zu müssen. Denn die Initiative sieht vor, dass Wiederholungstäter auch bei leichten Taten ausgeschafft werden.

Die grosse Mehrheit reist freiwillig aus

Die Statistiken zeigen auch, dass es in den allermeisten Fällen problemlos gelingt, kriminelle Ausländer ausser Landes zu schicken. 2012 reisten 84 Prozent der kriminellen Ausländer von alleine aus, nachdem die Migrationsämter ihnen eine Wegweisungsverfügung zugestellt hatten. Der grosse Rest wurde ausgeschafft, nur ein verschwindend kleiner Teil taucht unter. Diese Zahlen jedoch schwanken von Jahr zu Jahr; 2008 etwa reisten nur 68 Prozent freiwillig aus.

Trotz dieser Schwankungen zeigt sich: Nur ein kleiner Teil der kriminellen Ausländer muss ausgeschafft werden. Wer im Zusammenhang mit der Durchsetzungsinitiative also nur von Ausschaffungen spricht, verkennt, dass es in der kommenden Abstimmung mehrheitlich nicht um Ausschaffungen, sondern um erfolgreiche Wegweisungen geht.

Eine heile Welt ist übrigens Appenzell Innerrhoden: Dort wurde in den vergangenen drei Jahren keinem einzigen Kriminellen das Aufenthaltsrecht entzogen. Im Kleinstkanton werden aber auch weniger als zehn Ausländer pro Jahr wegen einer Straftat verurteilt.

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bild: az

Fast die Hälfte der Weggewiesenen sind EU-Bürger

Vom Entzug des Aufenthaltsrechts sind mehrheitlich Bürger aus Drittstaaten betroffen: 2014 machten sie rund 56 Prozent aus. Doch auch in dieser Hinsicht unterscheiden sich die Kantone stark: Im Kanton Tessin waren im Jahr 2015 ganze 91 Prozent der weggewiesenen Straftäter Bürger aus dem EU/Efta-Raum, und auch in den Kantonen Thurgau, Uri und Wallis waren die EU- und Efta-Bürger in der Mehrheit.In den Kantonen Zug und Basel-Stadt machten die Drittstaatsangehörigen im letzten Jahr hingegen 100 Prozent der Weggewiesenen aus, im Aargau waren es gut 82 Prozent.

Unabhängig davon, ob die Durchsetzungsinitiative angenommen wird oder nicht: Dieser Zustand gehört bald der Vergangenheit an.Denn das Volk hat 2010 die Ausschaffungsinitiative angenommen, und die wird die Praxis verändern.

Gemäss Bundesamt für Statistik hätten 2014 schweizweit 1088 Ausländer mit B- oder C-Ausweis wegen Straftaten ihr Aufenthaltsrecht verloren, wäre die Initiative bereits umgesetzt gewesen. Mit der Durchsetzungsinitiative wären es 2195. Andere Prognosen gehen von deutlich mehr aus; Chefs von kantonalen Migrationsämtern bezeichnen solche Zahlen hingegen als «übertrieben», denn diese enthielten auch Kriminaltouristen, die ohnehin ausgeschafft werden.

Michael Schneider ist Chef des Glarner Migrationsamtes: Er rechnet damit, dass die Anzahl Wegweisungen wegen Straftaten um «maximal einen Drittel» zunehmen wird, zumindest in den kleineren Kantonen. Dabei stützt sich Schneider auf die Anzahl krimineller Ausländer, die seine Behörde pro Jahr verwarnt, denen sie also eine Wegweisung androht, damit sie künftig die Gesetze achten. Die Verwarnungen lassen sich in Glarus an einer Hand abzählen.

Mit der Durchsetzungsinitiative würden diese seltenen Verwarnungen wohl durch Wegweisungen ersetzt. «Wie man davon ausgehen kann, dass die Anzahl Wegweisungen regelrecht explodieren wird, ist mir persönlich schleierhaft. Das wird höchstens in bevölkerungsreichen Kantonen der Fall sein», sagt Schneider. Denn dort werden mehr schwere Delikte begangen.

Zürich entzieht am meisten kriminellen Ausländern das Aufenthaltsrecht: 113 waren es im letzten Jahr. Hätten sie in Bern gewohnt, wären wohl manche von ihnen von der Wegweisung verschont geblieben.Diese Ungleichbehandlung hat bald ein Ende: Mit dem Deliktkatalog der vom Parlament beschlossenen Umsetzung der Ausschaffungsinitiative werden einzig noch Härtefälle für Unterschiede sorgen.

Und mit der Durchsetzungsinitiative käme sogar ein totaler Absolutismus zum Tragen, der alle kriminellen Ausländer gleich behandelt. Was bleibt, ist einzig die Ungleichbehandlung gegenüber Schweizer Straftätern. 

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