In der Primarschulzeit werden Freundschaften fürs Leben geknüpft. Erinnerungen für die Ewigkeit geschaffen. Herzen und Seelen, wohin man schaut – bis zu diesem einen Tag.
Das skrupellose Lehrerpult-Regime statuiert ein Exempel seiner Macht an den zarten Gemüter der Schüler: Die Sitzordnung wird geändert, Freundschaften auf die Probe gestellt, eine klasseninterne Krise bricht aus. Teile und herrsche!
Recht und Ordnung. Als gnaden- und kompromisslose Galionsfigur dieser ritterlichen Werte sorgt er auf dem Schulhausplatz für Angst und Schrecken. Und dann tritt er ins Klassenzimmer.
Selbst bei Unschuldslämmern ist dies der Moment, in dem der Puls in ungesunde Höhen schnellt. Stossgebete stauen sich an der Decke des Klassenzimmers. Zittrige Kinderstimmen wimmern irgendwelche Vermutungen, wer womöglich seine Darvida-Verpackung in der Garderobe hat liegen lassen. Sekunden werden zu Stunden. Nicht bewegen, nicht atmen. Der Sturm zieht vorüber.
Ein weiteres Instrument mentalen Piesackens seitens der pädagogischen Autorität ist die Zweierreihe. Die eiserne Jungfrau unter den Marschformationen scheint der psychischen Zermürbung der Schüler zu dienen. Gerade dann, wenn erwartet wird, dass jeder «Bueb» ein «Meitli» an die Hand nimmt.
In diesem symbolischen Korsett des Grausens zeigen dann auch die lautesten Rüpel, die frechsten Gören eine demütige, ja, gedemütigte Haltung.
Routine ist des Schülers Trumpf. Etablierte Reputationen und automatisierte Verhaltensmuster ermöglichen es dem Klassenbund, einen gewissen Grad an Handlungsmacht aufzubauen. Natürlich wird auch dies gekonnt von der erzieherischen Hoheit untergraben.
Sogenannte Ersatzlehrer werden eingesetzt, sorgen für Verunsicherung, schüren Ungewissheit und somit auch Angst. «Was darf man?», «Wer ist das?», «Wer bin ich?». Der hilflose Schüler verliert die Orientierung, neue Hierarchien keimen auf.
Auch der Tag kam,
an dem die Zahnputzfrau übernahm.
Fluorid-Zahnpasta und Mundspülung
werden angeordnet, unter diktatorischer Führung.
Eine Stunde, so das Gebot,
darf nichts konsumiert werden; kein Wasser, kein Brot.
Es wird sich der Prozedur unterworfen, welch Graus!
Und klar: Dein Banknachbar leert seinen Mageninhalt aus.
Das Klassenzimmer ist das Revier, in dem man sich auslebt, in dem man sich versucht, in dem man sich mit Ellenbogen Platz verschafft. Der eine Tag, an dem diese Welt durch elterliche Präsenz erschüttert wird, kommt da einer Farce gleich.
Klar, man will zeigen, wie gut man im Klassengefüge funktioniert, will sich profilieren, brillieren. Perfekte Voraussetzungen für über-motivierte Unfälle, Querelen aufgrund kognitiver Überhitzung und der Aufregung geschuldete Stimmungsachterbahnen.
Als wäre die Tortur des koordinierten Zusammenarbeitens nicht bereits genug, wird seitens der Klassenzimmer-Obrigkeit zudem primär darauf geachtet, Keile zwischen funktionierende soziale Gefüge zu treiben.
Will heissen: Je grösser das Gruppenprojekt, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass du in der unpassendsten Gruppe landest. Das Zerbrechen der Schüler-Moral ist gemäss Legenden bis ins Lehrerzimmer zu hören.
In einem halbstarken Moment hat die spitze Zunge zugeschlagen, das Klassenoberhaupt wurde in seiner Autorität empfindlich getroffen. Unter tosendem Applaus wird eine Strafe (oder «Ströfzgi») ausgesprochen, die schelmisch lächelnd, gar spöttisch akzeptiert wird. Bis sie dann effektiv abgesessen werden muss.
Unter Ausschluss der Öffentlichkeit, in der direkten Anwesenheit der Übermacht vom Lehrerpult wird einem dann bewusst, wie klein man ist. Die Widerwilligkeit weicht der Ehrfurcht. Bedauern setzt ein. Was Mami wohl dazu sagt?
Im juvenilen Abschnitt eines jeden Lebens treten früher oder später Phänomene des Gruppendrucks auf, die für mächtig Konfusion und Kopfschmerzen sorgen.
Dieses eine Lied im Musikunterricht, das du eigentlich magst aber nicht mitsingen kannst, weil alle anderen es doof finden? Dieser eine Sprung von der Sprossenwand, der dir eigentlich zu hoch ist, bei dem du aber dennoch die Angst weglachst, weil alle anderen es so tun? Bagatellen, die du aus Gründen der sozialen Erwünschtheit begehst, welche du aber moralisch nicht vertreten kannst? Stürmische Momente.
Nach mindestens drei Jahren des Aufbäumens, der Revolte und des Strampelns, kommt der Tag, an dem Erlösung naht. Zumindest augenscheinlich. Der unmittelbare Moment vor der Demontage der Klassenmechanik sorgt dann allerdings gerne einmal für Magenkrämpfe. «War es denn wirklich so schlimm?»
Ganz in diesem Sinne:
Die Zeit war schön, doch ist sie vorbei,
die Zeit der eingespielten Blödelei.
Waren wir zusammen noch gross und stark,
sind wir alleine schwach und ängstlich, bis ins Knochenmark.