Genauso wie viele Studenten in der Schweiz befinde ich mich hier in Perth auch gerade in der Prüfungsphase. Und wenn ich eines in 10 Semestern Uni gelernt habe, dann, dass man nie wirklich lernt, wie man richtig lernt.
Noch eine Woche zur Prüfung. Das reicht vollkommen, um den Stoff von vierzehn versäumten Vorlesungen ins Mittelfrist-Gedächtnis reinzuhämmern. Wenn ich in den nächsten paar Tagen die Powerpoint-Folien zusammenfasse, dann bleibt mir das ganze Wochenende, um sie gewissenhaft durchzugehen. Chillig. Dann kann ich heut' beruhigt noch meine Serie fertigschauen.
Netflix hat mir nach der letzten Serie eine Neue empfohlen. Sie ist mega spannend und hat nur fünf Staffeln. Die schau ich kurz noch zu ende.
Ok, jetzt aber los. Wenn ich pro Tag vier bis fünf Vorlesungen zusammenfasse, schaff ich’s bis zum Wochenende. Jetzt brauch ich nur noch die geeignete Musik, um in meinen Fleissarbeits-Flow zu kommen. Am besten etwas ohne Gesang.
Eine Viertelstunde später ...
Beim Suchen einer geeigneten Smooth-Jazz-Playlist auf Spotify ist mir aufgefallen, dass ich das neue Gorillaz-Album noch gar nicht gehört habe. Da hör ich eben kurz rein.
Eine knappe Stunde später ...
Hmm die alten Sachen gefielen mir besser. Wie hiess dieser eine Hit nochmal mit dem lässigen Schlagzeugbeat? Clint Eastwood, oder?! Wie der Schauspieler, der da in Dings mitgespielt hat... argh... wie hiess dieser Film? Mal kurz auf Wikipedia nachschauen.
Am späten Abend ...
... und so kann man also mit herkömmlichen Haushaltsmitteln und einer Kartoffel eine Smartphone-Batterie bauen? Was für ein spannendes Youtube-Tutorial. Ach verdammt, jetzt ist es schon zu spät zum lernen. Morgen leg ich aber so richtig los! Dafür stell ich sogar den Wecker auf 9!
Um 9 Uhr bin ich aufgewacht, um 11 Uhr bin ich aufgestanden. Ich musste noch eben die neusten Einträge auf Facebook, Instagram, 9 Gag, Reddit, Youporn und der Glückspost anschauen. Aber jetzt kann’s losgehen.
Ein bisschen später ...
Meine Cousine hat in ihrem Lifestyleblog geschrieben, wie stark Ordnung und Sauberkeit der Arbeitsumgebung die Konzentration beeinflussen. Drum habe ich den ganzen Schreibtisch aufgeräumt und den Boden gesaugt. Danach noch die Fenster geputzt, das Wohnzimmer neu gestrichen und einen Gewürzgarten angelegt.
Jetzt ist dann gleich noch die Geburi-Party eines Mitbewohners des Gärtners meiner Schwester, da muss ich natürlich hin. Aber wenn ich mich morgen mit Energydrinks in meinem Zimmer einschliesse, schaffe ich die Zusammenfassungen in einem Zug. Easy.
...
Die Party am Donnerstag war sehr intensiv, drum hab ich leider den ganzen Freitag verschlafen. Vielleicht hat ja jemand aus früheren Jahrgängen noch eine gute Zusammenfassung rumliegen, die ich mir borgen kann.
Obwohl ich den ganzen Samstag mit Suchen verbracht habe, hab' ich leider keine Zusammenfassung gefunden.
Jetzt bleibt nur noch ein Tag.
Um doch noch den Hauch einer Chance auf ein «genügend» zu haben, muss ich mich in die letzte Bastion zurückziehen: Die Zentralbibliothek.
Dort bietet sich mir ein unschöner Anblick. Alle verlorenen Studi-Geister haben sich zusammengefunden. Verzweifelt liegen sie sich in den Armen und versuchen im Endspurt noch in den Kopf zu drücken, was in der kurzen Zeit noch geht. Ich würd' mich ja anschliessen, aber die Bibliothek platzt wieder einmal aus allen Nähten, sämtliche Arbeitsplätze sind besetzt.
«Ich habe es versucht», denke ich mir, «das zählt!».
Morgen an der Prüfung setze ich einfach auf einen wachen Geist – die Kraft des Moments. Ich nenne dies das «Präsenz-Genie». Das ist mindestens so wichtig, wie das Lernen. Ich schaue noch etwas fern und gehe schliesslich nach einer anstrengenden Woche ins Bett.
«Wie lief’s?», fragt mein Mitbewohner, als er mir die Tür öffnet. – «Ich will nicht darüber reden.»
Ich schlurfe an ihm vorbei, schliesse die Fensterläden und leg mich mit Nutella und Whiskey aufs Sofa. Ich hasse mein «Präsenz-Genie».