Es bringt Menschen verschiedener Kulturen zusammen, erweitert den persönlichen Erfahrungshorizont und ist für die eigene Charakterbildung unabdingbar. Nein, ich rede für einmal nicht vom Reisen, sondern vom Internet.
Auf meinem Nordwesttrip war der Anschluss ans weltweite Netz kaum vorhanden. Schon vor Antritt des Abenteuers informieren uns die Reiseleiter darüber, dass bei den meisten Telefonanbietern jenseits von Perth kein Empfang mehr da sein wird. Und auch WLAN ist nur an bedingten Raststätten erhältlich. Ich beschliesse, diesen Trip als Anlass dafür zu nehmen, für zehn Tage komplett vom Netz zu gehen. Wenn ich schon weg von der Zivilisation bin, dann kann ich ja gleich ganz weg.
Mein Smartphone verbringt die ganze Zeit im Flugmodus und wird bloss als Kamera und MP3-Player eingesetzt. Ich bleibe zehn Tage stark, während die meisten anderen gierig zu den Routern von Tankstellen und Campingrezeptionen rennen.
Nachdem meine Entzugserscheinungen der ersten Tage überwunden sind, empfinde ich die Empfangslosigkeit als erlösend. Sie tut gut, denn normalerweise führe ich eine ungesunde Beziehung zu meinem Handy: Es ist das Erste was ich sehe, wenn ich aufstehe. Das Letzte, wenn ich mich ins Bett lege.
Ich kann mich dem Erlebnis voll und ganz hingeben. Für einmal vergesse ich, was auf der Welt passiert. Für einmal
Vor meiner Mission «Datenlos durch die Nacht» informiere ich natürlich meine Eltern und engsten Freunde. Aber an ALLE habe ich natürlich nicht gedacht. Das wird mir klar, als ich mein Handy nach 10 Tagen wieder einschalte und dutzende Nachrichten eintrudeln. Einige der Whatsapp- und Facebooknachrichten stammen von besorgten Kollegen:
«LÄBSCH NA? HALLOOO?»
Dadurch wird mir erst wieder klar, wie extrem auffällig ein Unterbruch von wenigen Tagen in der heutigen Dauerkommunikation sein kann. Ich komm nicht umhin mir vorzustellen, was geschehen würde, wenn wir alle einmal zehn Tage auf Smartphones und Internet verzichten würden.
Alle verhalten sich relativ ruhig. Ab und zu greifen die Leute in der Hosentasche ins Leere. Ungewohnt ist diese Situation. Vor allem, wenn es darum geht, Busverbindungen nachzuschauen oder zu prüfen, aus welchem Film einem dieser Schauspieler der Netflixserie bekannt vorkommt.
Etwas verschämt stehen Leute an S-Bahnstationen und wissen nicht, wohin sie blicken sollen. Manche schauen ratlos auf die Handfläche, wo das Handy einmal war. Andere blicken um sich und registrieren zum ersten Mal, wie der Bahnhof überhaupt aussieht. Miteinander geredet wird jedoch noch nicht.
Die Leute werden etwas nervös. Leicht desorientiert irren Jugendliche beim Bahnhofstreffpunkt herum, unsicher darüber, ob das Tinderdate immer noch gültig ist, das vor einigen Tagen ausgemacht wurde. Fragend blicken sie sich an. Man hat die gesuchte Person ja noch nie gesehen und seit drei Tagen das Facebookprofil nicht mehr stalken können.
Studenten verlieren die Fassung. Da Vorlesungen nicht mehr hochgeladen werden, müssen sie tatsächlich in den Unterricht – physisch UND geistig anwesend sein! Bei den Universitäten gehen zahlreiche Exmatrikulations-Anträge ein.
Es entstehen allmählich Verkehrsprobleme. Die meisten Autofahrer weigern sich nach wie vor, Fremde nach dem Weg zu fragen. Deshalb verirren sich zahlreiche Fahrzeuge in die Innenstadt und finden nicht mehr raus.
Ein paar arme Seelen wandeln immer noch bei der grossen Bahnhofsuhr herum, weil sie nicht mitbekommen haben, dass ihr Date mittlerweile wieder mit dem Ex zusammen ist.
Die Post erfährt einen erfreulichen Zuwachs ihrer Aufträge. Wer ein dringenderes Anliegen hat, muss die Strasse zu dem einen Nachbarn hinunterlaufen, der noch einen Festnetzanschluss hat. Es herrschen Zustände wie in den 40ern.
Es werden wieder vermehrt Zeitungen gelesen. Internet-Trolle hingegen resignieren. Sie können ihre scharfzüngige Meinung nicht mehr unter Onlineartikel posten. Stattdessen müssen sie ihre Missgunst auf Zeitungspapier kritzeln. Niedergeschlagen strecken sie ihre Notizen fremden Leuten auf der Strasse ins Gesicht, im verzweifelten Versuch, gehört zu werden.
Da Businessleute nicht dauerverfügbar sind, erinnern Arbeitsaufträge an die Schulzeit: «Frau Meyer, darf de Emil hütt usekoo go Aktiekürs beobachte? Är kunnt zrugg wenns dunkel wird, versproche.»
Der Kontakt auf der Strasse nimmt allmählich zu. Menschen, die sich noch nie gesehen haben, kommen ins Gespräch. Manche schätzen den funklosen Zustand. Fakten können nicht mehr so schnell geprüft werden. Ohne Wikipedia wird schnell einmal behauptet und nicht mehr so rasch hinterfragt. «Impfige mache mi Kind zumne Autischt? Hm ... dönt plausibel.»
In der Innenstadt kehrt langsam wieder Ruhe ein.
Nur einer scheint es nicht mitbekommen zu haben ... Noch heute irrt er in der Altstadt rum und zeigt wildfremden Menschen ausgedruckte Katzenfotos.