Ich möchte diese Woche ausnahmsweise von meinem hohen satirischen Steckenpferd absteigen, den Blödelhut absetzen und von einer kurzen Begegnung erzählen, die mir in Erinnerung bleiben wird.
Wir befinden uns an einer unbelebten Raststätte, wenige Stunden vor dem Karinjini-Nationalpark. Abgenutzte Picknickbänke und ein WC, bei dessen Anblick man sich denkt: also die sechs Stunden bis zum nächsten Stopp halte ich noch durch.
Und dann ist da noch ein weisser Truck, der mittels «Do-It-Yourself»-Handwerk zum Wohnmobil umgebaut wurde. Aus dem Fahrzeug steigt ein Australier, wie er in meinem mentalen Stereotypen-Buche steht: braun gebrannt, unrasiert, mit Lederhut und abgenutzten Kleidern. Der Mann ist bloss ein Buschmesser und eine Krokodilzahn-Kette von Crocodile Dundee entfernt. Vor ihm springt ein Bär von einem Hund aus dem Wagen. Ein riesengrosser weisser Vierbeiner, von einem Pyrenäenberghund abstammend, wie ich später erfahre. Der Hund wird innert Sekunden zum Superstar und explodiert fast vor Freude, während er von zahlreichen Austauschstudenten gestreichelt wird.
Den Mann erfreut dieser Ansturm mindestens genauso. Da alle Fellzonen dieses liebenswerten Monsterhundes schon von euphorischen Händen besetzt sind, fange ich mit dem Herrchen ein Gespräch an. Anfangs ehrlich gesagt bloss, um die unangenehme Stille zu überbrücken, bald schon aber aus grosser Neugier.
Er stellt sich mir als Dennis vor. Ich schätze ihn auf Ende 50, vielleicht anfangs 60. Schwer zu sagen – in der australischen Sonne altern die Leute scheinbar verschieden schnell. Er sei schon seit etwa zwei Monaten nicht mehr so vielen Leuten begegnet. Ich starte mit standardmässigem Smalltalk:
Dennis erzählt: «Seit etwa sechs Monaten. Gestartet bin ich in Victoria, wo ich normalerweise zuhause bin. Seitdem bin ich mehrmals zwischen Ost und West hin und her gereist. Über Weihnachten war ich in Brisbane bei meinem Neffen». «Sechs Monate sind sehr lange», sage ich. Dennis erklärt ganz unaufgeregt: «Weisst du, ich habe unheilbaren Krebs. Noch ein paar Monate, vielleicht ein Jahr zu leben. In Australien rumreisen wollte ich schon immer. Darum mach ich das jetzt.»
Darauf bin ich überhaupt nicht gefasst. Ich möchte keine gekünstelte Empathie heucheln, da ich es nicht nachempfinden kann. Etwas baff entgegne ich ein knappes: «I’m sorry to hear.»
In meinem Kopf sind derweil so viele Fragen, von denen ich nicht weiss, ob ich sie stellen darf.
Er ist relativ klein, nicht weit über 1,60. Ich, über einen Kopf grösser, muss deutlich runterschauen. Es fühlt sich irgendwie seltsam an. In dem Moment möchte ich ihm so viel Respekt wie möglich entgegenbringen, und muss dabei aber die ganze Zeit daran denken, wie giraffenmässig ich mir grad vorkomme.
Dennis lächelt und holt mich aus meiner Unbeholfenheit raus. Unbefangen beantwortet er meine Fragen, ohne dass ich sie stellen muss.
Es brauche mir nicht Leid zu tun. Er habe mit seinem Zustand Frieden geschlossen und möchte die Reise geniessen. Er sei auch nicht einsam, er habe drei Kinder und drei Enkelkinder. «Mein ältester Sohn ist Polizist», sagt er stolz. Dennis zeigt auf den Ball mit dem einige meiner Kollegen spielen. «Er hat lange auch Fussball gespielt, bevor er zur Polizeischule ging». «Meine Frau züchtet Hunde», fährt er weiter fort. Er zeigt mir ein Foto, auf dem sie einen weiteren solchen Yeti-Hund hält. Das ist sein Vater, sagt er stolz und deutet auf seinen Begleiter, der sich nun seinem Fressen zugewendet hat.
Auch meine Gruppe ist schon lange fürs Mittagessen zu den Tourbussen zurückgekehrt. Ich bleibe bei Dennis. Das Interesse an ihm ist grad viel grösser als der Hunger.
Wie denn die Familie seine Reise aufnimmt, frage ich. Dennis erzählt:
Rumreisen wollte er schon immer, er hat es einfach nie gemacht – «aber jetzt ist es höchste Zeit». Er fährt fort: «Meine Mutter will, dass ich sie in Indien besuche und Alternativmedizin versuche.»
Er ist aus Agra und mit 12 Jahren nach Australien gekommen.
Die indische Herkunft hätte ich ihm nicht gegeben. «Wirst du nach Indien gehen?», frage ich. «Ich glaube nicht daran. Aber vielleicht werde ich es meiner Mutter zuliebe versuchen – viel lieber würde ich aber einfach mit dem Hund weiterfahren.»
Nach einer Weile zwingt mich Dennis, zum Mittagessen zu gehen. Er will nicht dafür verantwortlich sein, dass ich leer ausgehe. Ich gehe zu meiner Gruppe zurück.
Bevor ich später für die Weiterreise in den Bus einsteige, winkt mich Dennis nochmals zu sich rüber. Er verschwindet kurz im Wohnmobil und kommt mit einem gekühlten Bier zurück. Er drückt es mir in die Hand und wünscht mir alles Gute. Wir verabschieden uns mit einem Handschlag – über der Ellbogenhöhe, so wie Freunde und Fussballer das tun. Nicht darunter wie Geschäftsmänner.
Nun, ich erzähle diese Geschichte nicht, um auf die Tränendrüse zu drücken. Das ist auch kein Facebook-Artikel, bei dem Menschenleben mittels ein paar Likes und Shares gerettet werden sollen. Und auch wenn dies wie das Skript eines traurigen Indie-Films klingt, hat er mir alles so erzählt.
Dennis hat mich beeindruckt.
Ich jammere oft wegen vergleichsweise so wenig und er scheint der friedlichste, entspannteste Mensch der Welt zu sein. Und das mit einem viel tragischeren Schicksal, als dass es meine kleinen Problemchen je rechtfertigen könnten. Dennis hat mich daran erinnert, das Glas als halbvoll zu betrachten. Insbesondere in Bezug auf die Zeit, die man hat.
Zurück im Bus fragen mich die anderen, warum ich so lange mit «dem seltsamen fremden Mann» geredet habe. Nachdem ich es ihnen zu Ende erzählt habe, sagt eine Kollegin:
Und sie hat recht.