Der Weg zum Flughafen ist die Zeit, in der man mit Familie und Geliebten nochmals kurz zusammen sein kann. Ich bin alleine hingegangen. Das verrät weder was über mein Umfeld, noch über mich. Es gab verständlicherweise an einem Sonntag um 22.45 schlichtweg Gescheiteres zu tun.
In meine Flughafenaufenthalte haben sich in den Jahren kleine Rituale eingeschlichen:
Kleine Rituale eben.
Am Gate kommt das Warten. Die Zeit nutze ich, um Leute zu beobachten und sich deren Geschichten auszumalen. Grob zusammengefasst gibt es folgende Protagonisten:
... der sich über jegliche Verspätung erzürnt und seinen Frust am Gate-Personal auslässt.
... der das Ähnliche tut (jedoch viel impliziter, indem er nach jeder Durchsage laut schnaubt, die Augen verdreht und genervt auf die Breitling schaut).
... das sich auf zweieinhalb Wartesitzen mit Rucksäcken und Nackenkissen ein iPad-Kino eingerichtet hat.
... das vier Steckdosen in Anspruch nimmt, um iPod, Handy, Tablet und Powerbank fürs Tablet gleichzeitig zu laden.
... der mit zerknittertem H&M-Hemd versucht, ein Upgrade in die Business-Class zu bekommen.
Letzterer bin ich.
Und zwar nicht, wegen des vielen Alkohols, den man da kriegt. Das muss ich an dieser Stelle sagen, denn Mama liest mit. Nein, wegen meiner nervig-langen Beine. Einen ganzen Tag im Economy-Zwinger zu verharren, ist für mich so, als würde ich bei Twister in einer absolut verrenkten Position sagen:
Das ist jetzt nicht gegen das Flugpersonal gerichtet, denn das sind die angenehmsten Menschen an Bord. Wer es schafft, täglich die Extrawürste unzähliger Economy-Monarchen zu jonglieren, hat eine Sonderauszeichnung verdient – das Nörglerverdienstkreuz.
Natürlich bleibe ich in der Economy-Class – wo ich ehrlicherweise auch hingehöre. Der Sonderwünschler neben mir heisst Simon. Also vermutlich nicht wirklich, aber ich gehe jetzt einfach davon aus. Als erstes will Simon wissen, wann es denn Essen gibt. Da habe ich noch nicht einmal meinen Rucksack verstaut.
Jetzt will er gerne lesen – auf dem Nachtflug. Ob es mich stört, wenn er das Licht anlässt, will er wissen. «Mich nicht» antworte ich, und denke: «aber vermutlich die hundert Anderen in der abgedunkelten Kabine».
Ich widme mich meinem Film: «Magnificent Seven». Simon starrt dabei auf meinen Bildschirm. Und zwar nicht nur kurz, sondern ununterbrochen. Den halben Film schaut er schon mit. Er hat dabei einen Blick drauf, der mir mehr Angst macht, als ich zuzugeben vermag. Das macht mich ziemlich nervös, zumal er ja selbst einen Screen vor sich hat und den gleichen Film bei sich schauen kann ... mit Ton! Wann immer ich pausiere, widmet er sich wortlos wieder seinem Buch.
Ich könnte ihn drauf ansprechen, ihm sagen, dass es stört. Tue ich aber nicht. Natürlich nicht. Denn ich reg mich viel lieber auf, anstatt was zu unternehmen.
Ich beginne abzudriften und mir vorzustellen, ob sich Simon im Privatleben immer so seltsam verhält. Und wie es wohl im Beruf aussieht. Und wo er überhaupt arbeitet. Ich spiele Simons halbes Leben in meinem Kopf durch. Ich unterstelle ihm Konflikte mit Freunden, mit Familie und der Chefin. Ich stelle mir vor, wie er es wohl einfach nicht leicht hatte in der Schule. Vermutlich hatten ihm seine Eltern zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Oder zu viel! Auf jeden Fall waren sie geschieden. Vielleicht hatte er nie einen Fernseher. Oder bloss einen ohne Ton. Kann sein, dass er zuhause auf dem Sofa einfach immer den Platz ganz rechts aussen hatte und deshalb viel lieber aus einem 30-Grad-Winkel fern schaute. Vielleicht blickt er so böse auf «Magnificent Seven», weil ihn seine Freundin für einen Cowboy verlassen hat, oder für Chris Pratt.
Als ich so über Simons Leben nachdenke, fällt mir plötzlich ein, wie anmassend ich mich gerade verhalte. Ich habe kein Recht, für ein Leben Mitleid zu empfinden, das ich mir für ihn ausgedacht habe. Ich habe kein Recht darauf, ihm irgendwelche Probleme zu unterstellen, geschweige denn, ihn daran zu interpretieren und zu bewerten. Ich habe bloss das Recht mich über sein Verhalten aufzuregen. Aber auch das ist lediglich eine Option.
Ich rege mich nicht auf.
Stattdessen lasse ich ab von «Magnificent Seven» und wechsle zu «The Kid» von Charlie Chaplin – einem Stummfilm.
So haben wir letztendlich beide etwas davon. Sogar sein Blick wird deutlich entspannter.
Wer von euch denkt sich auch regelmässig Geschichten über andere Menschen im Flugzeug, im Bus oder an der Migroskasse aus?