Hol dir jetzt die beste News-App der Schweiz!
- watson: 4,5 von 5 Sternchen im App-Store ☺
- Tages-Anzeiger: 3,5 von 5 Sternchen
- Blick: 3 von 5 Sternchen
- 20 Minuten: 3 von 5 Sternchen
Du willst nur das Beste? Voilà:
Die sieben Punkte gegen die «Kleinen» (Kasachstan, Dänemark, Norwegen, Lettland) reichen wahrscheinlich nicht für die Viertelfinals. Es kann sein, dass wir nun noch einen oder zwei Punkte gegen die «Grossen» benötigen.
Punkten gegen die Titanen – wir verstehen darunter jene grossen sechs Nationen, die in der Weltrangliste vor uns stehen (Kanada, USA, Russland, Finnland, Schweden, Tschechien) – sind möglich. Wir haben es seit dem Wiederaufstieg von 1998 schon mehr als 20 Mal getan.
Aber wir haben es noch nie mit «Firewagon-Hockey» getan. Selbst der Sturmlauf zum WM-Silber 2013 war noch kein «Firewagon-Hockey». Es war wohl eine offensive Öffnung im Vergleich zur «Ära Krueger». Aber noch gut durchdachtes, sehr gut organisiertes, defensiv beinahe fehlerfreies modernes Powerhockey, abgesichert von Reto Berra und Martin Gerber, zwei ganz grossen Torhütern. Patrick Fischer war damals der zweite Assistent von Sean Simpson. Ein Zauberlehrling.
Der Zauberlehrling ist jetzt selber Nationaltrainer. Seine Spielweise ist sozusagen die offensive Fortsetzung von 2013 mit anderen Mitteln. Für die Spielweise der Schweizer unter Patrick Fischer haben die Nordamerikaner vor gut einem halben Jahrhundert ein treffendes Wort kreiert: «Firewagon-Hockey». Vorwärts wie die Feuerwehr.
Zum ersten Mal geprägt haben die Chronisten diesen Begriff in den 1950er Jahren für das Hockey der Montréal Canadiens mit den offensiven Stars Maurice Richard und Jean Béliveau. Am spektakulärsten haben es jedoch die Edmonton Oilers in den 1980er Jahren getan. Mit dem bis heute offensiv besten NHL-Team aller Zeiten. Mit Stars wie Wayne Gretzky, Jari Kurri, Mark Messier und Glen Anderson. Sie alle buchten pro Saison mehrmals mehr als 100 Punkte. Verteidiger Paul Coffey auch.
Offensives Feuerwehr-Hockey haben bei der WM am ehesten die Russen und die Kanadier zelebriert. Die Titelturniere sind jedoch eher geprägt von taktisch schlauen Teams – der Höhepunkt des taktischen Hockeys waren die zwei WM-Finals 1998 in der Schweiz zwischen Schweden und Finnland. Sie endeten 1:0 und 0:0. Ja, ein kurioser Modus sah damals zwei Finals vor.
Die Aufhebung des Zwei-Linien-Passes und die Regelauslegung «Null Toleranz» haben das Spiel im 21. Jahrhundert längst wieder geöffnet. Das offensive «Feuerwehr-Hockey» der Oilers haben wir trotzdem nicht mehr gesehen – bis Moskau 2016. Die Schweizer bescheren uns die Renaissance dieses spektakulären Offensiv-Hockeys. Wild und lustvoll wie einst die Oilers.
Welch ein Gegensatz zur «guten alten Zeit» (1998 bis 2010). Da höhnten die Kritiker, die Schweiz sei zwar das taktisch beste WM-Team und erreiche gemessen am Potenzial erstaunliche Resultate. Aber mit dem schlimmsten, langweiligsten Hockey, das man seit Menschengedenken gesehen habe. Jetzt wird kritisiert, die Schweiz sorge zwar für grandiose Unterhaltung. Aber die Resultate seien, gemessen am Potenzial, ungenügend: Punktverluste gegen Teams wie Kasachstan, Dänemark und Norwegen. Teams, die man einst sicher im Griff hatte. Gegen Kasachstan und Dänemark hatten wir vor Moskau überhaupt noch nie an einem Titelturnier Punkte abgegeben.
Gelingt Patrick Fischers «Feuerwehr-Hockey-Experiment»? Können wir so gegen die Grossen punkten? Tatsächlich mahnen die Schweizer in lichten Momenten tatsächlich ein wenig wie die Oilers der 1980er Jahre (ich habe sie oft live im Stadion gesehen). Auch die Oilers waren ein junges, unerfahrenes Team, erst 1979 in die NHL gekommen. Sie wurden anfänglich nicht ernst genommen. Ihr Hockey galt erst einmal als playoffuntauglich. Aber 1984 holten sie ihren ersten Stanley Cup – und dann in den nächsten vier Jahren drei weitere (1985, 1987, 1988).
Der ganz grosse Unterschied zu den Schweizern 2016: Die Oilers hatten eine ganze Reihe überragende offensive Einzelspieler. Mit Wayne Gretzky gar den besten Spieler seiner Zeit. Und wie wir heute wissen, den Besten aller Zeiten. Und neben Gretzky weitere Stürmer, die pro NHL-Saison mehr als 100 Punkte buchten. Die Oilers hatten zeitweise fünf 100-Punkte-Scorer in ihren Reihen (Gretzky, Kurri, Anderson, Messier, Coffey). Zum Vergleich: Diese Saison schaffte, trotz «Null Toleranz», gerade noch ein einziger Spieler in der gesamten NHL die 100-Punkte-Grenze: NHL-Topskorer Patrick Kane (106).
Weltklasse-Stürmer sind also eine Voraussetzung für erfolgreiches «Firewagon-Hockey». Wir haben mit Nino Niederreiter nur einen Stürmer, der ganz nahe an die Weltklasse herankommt. In der aktuellen Form ist er wahrscheinlich der beste Schweizer Stürmer an einer WM seit 1998. Aber er ist kein «Sniper». Kein eiskalter Vollstrecker. Eher ein unermüdlicher Energie- und Powerstürmer, statistisch, gemessen an seinen Abschlussversuchen, einer der fleissigsten an diesem Turnier. Unsere Stürmer sind auf WM-Niveau ganz einfach zu wenig produktiv. Ohne die Treffer der Verteidiger (Du Bois, Blum) würden wir jetzt gar gegen den Abstieg spielen.
Muss also das Feuerwehrhockey von Patrick Fischer scheitern? Ist es mit seinem wilden Offensivhockey nicht möglich, nun gegen die Grossen zu punkten?
Es ist möglich. Wir dürfen uns auf eines der interessantesten, aufregendsten Experimente unserer neueren Hockeygeschichte freuen. Der Nationaltrainer macht nicht den Fehler, mitten im Turnier von seiner Linie abzurücken und Meinung, Stil und Taktik zu ändern. Vorwärts auch gegen Russland, Schweden und Tschechien.
Die Chance liegt darin, dass sich die Grossen am ehesten durch eine wilde, unkonventionelle Vorwärtsstrategie überraschen lassen. In der Vergangenheit (ausser 2013) haben wir den Grossen die Punkte im besten Wortsinne abgerungen. Mehr durch Arbeit als durch Spiel.
Nun werden wir sehen, ob es auch möglich ist, gegen die Grossen Punkte im besten Wortsinne herauszuspielen. Wenn es gelingt, die zu erwartende Unruhe in der gegnerischen Zone zu Treffern auszunützen, dann ist ein erster Schritt getan. Die Chancenauswertung muss besser werden. Es braucht aber noch einen zweiten, ebenso wichtigen Schritt: Die Reduktion der Fehler und damit einhergehend ein besseres Boxplay. Und schliesslich und endlich geht es nicht ohne den Rückhalt eines Weltklasse-Torhüters, der 95 Prozent der Schüsse abzuwehren vermag. Den hatten die Oilers damals mit Grant Fuhr übrigens auch.
Wenn wir gegen Russland, Schweden und Tschechien keinen Weltklasse-Goalie haben, dann können Sie alles, was Sie jetzt über Chancen und Risiken von Patrick Fischers «Firewagon-Hockey-Experiment» gelesen haben, gleich wieder vergessen. Weil wir dann nämlich die restlichen drei Partien hier in Moskau sang- und klanglos verlieren werden.