Und nun zurück zum Artikel.
Liebe macht kopflos. So bin ich überhaupt erst in New York gelandet – und habe mir nicht lange überlegt, wie ich hier denn überleben werde. Lange gedauert hat die Beziehung nicht, meinen Kopf habe ich mittlerweile wieder beisammen und bin nun seit einem Jahr im Big Apple. Meine Geschichte nehmen die hartgesottenen New Yorker mit einem kühlen Nicken zur Kenntnis, zu oft haben sie diese schon gehört.
«Wieso bist du denn hier?» – diese Frage wurde mir natürlich auch während meines ersten Jobinterviews gestellt. Es war – ich bin darüber gleichermassen stolz wie belustigt – als «professional dogwalker». «Das wird bestimmt lustig!», dachte ich mir und sah mich schon mit Fido und Bello im Central Park bei Sonnenschein meine Runden drehen. Anstatt den potenziellen Arbeitgebern meinen Herzschmerz zu klagen, antworte ich: «Ich liebe diese Metropole.» In Tat und Wahrheit hätte ich mich wohl nie für dieses Ungeheuer einer Stadt mit den extremen Jahreszeiten entschieden.
Die drei Anwesenden nicken, denn wer liebt die Stadt nicht? Ich zeige Fotos von Pinky und Brain, den Ratten, die ich während meiner rebellischen Teenagerjahren als Haustiere hielt und schwelge in Erinnerungen an unseren Hund, Sam. Nach einer geschlagenen Stunde scheine ich alle ausreichend von meiner Tierliebe überzeugt zu haben, sodass sie mich zu einem (unbezahlten) «Testlaufen» einladen.
Ein paar Tage später, es regnet in Strömen, treffe ich Eric, einen kettenrauchenden Mittdreissiger, der sich seit zehn Jahren von Hunden durch die Stadt zerren lässt. Man sagt Hunde und Herrchen beginnen sich mit der Zeit ähnlich zu sehen; bei Eric ist es der Geruch, der abgefärbt hat: Eine Duftwolke von nassem Hundefell gepaart mit einer Prise Waldboden umhüllt ihn.
Schnell erfahre ich, dass man als «dogwalker» eben doch nicht das grosse Geld macht. An die zwölf Hunde muss Eric pro Tag ausführen, um am Ende des Monats etwa 2’500 Franken mit nach Hause nehmen zu können. Wer die Mietpreise in NYC kennt, dem schwant Böses.
Drei Stunden und sechs Hundebekanntschaften später bin ich bis auf die Knochen durchnässt. Ich ziehe frühzeitig die Notbremse – das Testlaufen würde noch zwei Stunden dauern – und gebe mich geschlagen. Nach einem Telefonat an die Gassigeher-Agentur schliesse ich Frieden damit, dass ich nicht mithilfe von felligen Freunden meinen Lebensunterhalt bestreiten werde. Es muss doch einen anderen Weg geben, um Geld zu verdienen ...
Nach erfreulich kurzer Zeit finde ich einen neuen Job. Dieses Mal bei einer Reiseagentur als Deutsch- und Englisch sprechende Kundenberaterin. Zuvor musste ich mich durch ein Telefoninterview, tagesfüllende Testaufgaben und drei Vorstellungsgespräche kämpfen. Nun konnte die Arbeit beginnen. Mein heraufgehandelter Lohn: 45'000 Franken brutto jährlich. Nach allen Abzügen würden mir am Ende eines jeden Monats nicht einmal 3’000 Franken übrig bleiben, um in der teuersten Stadt der USA zu leben.
Ich pendle täglich von Brooklyn nach Manhattan, arbeite von 9 bis 18 Uhr und lerne nette Leute kennen. Ebenso gebe ich aber zu viel Geld fürs Mittagessen aus und suche vergeblich nach einem ruhigen Plätzchen nahe dem Union Square, wo ich dieses herunterschlingen kann – eine halbe Stunde Mittagspause ist hier die Norm – wenn man denn überhaupt den Schreibtisch verlässt.
Und da ist auch noch der elendiglich dahinsiechende Fisch, den meine Chefinnen in einem winzigen Gefäss bei uns auf dem Pult als Maskottchen halten. Seine Flossen sind zerfleddert und immer wieder mal treibt er in einem scheinbaren Akt der Rebellion auf der Seite liegend bis an die Wasseroberfläche und reckt den Kopf aus dem Wasser. Ganz zum Entzücken meiner Chefinnen: «He’s a trooper!» Sie hätten ihn während der Feiertage schon mehrere Tage nicht gefüttert – und siehe da, er habe überlebt!
Ich schliesse einen Pakt mit mir: Wenn sich der Todeswunsch des Fisches erfüllt, dann «darf» auch ich das Handtuch werfen. Der Fisch hielt schliesslich länger durch als ich: Nach einem Monat gibt mir die Monotonie der Arbeit den Rest.
Abgesehen von der Arbeit, hätte ich gerne noch ein wenig länger Einblick in diese Bürowelt erhalten. Die monatlichen gratis Team-Mittagessen waren vergnüglich, muteten aber auch ein wenig sektiererisch an. Nach dem Essen wurde der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin des Monats gekürt, beklatscht und mit einer Trophäe gefeiert. Weitere Meilensteine der Firma wurden bekanntgegeben und ebenfalls mit Applaus honoriert.
«Bin ich einfach zu wenig hart im Nehmen?», frage ich mich, nachdem ich auch diesen Job an den Nagel gehängt habe.
Meine letzte Mitbewohnerin arbeitete in einem Glace-Laden und schwärmte von der Arbeit. Gutes Trinkgeld, nette Leute – und so viel Eiscreme, wie man will! Überzeugt.
Ein paar Wochen später stehe ich hinter der Theke, eine Baseballmütze auf dem Kopf, die Schürze umgeschnürt und ein Lächeln auf den Lippen. Auch dieses sollte mir bald vergehen.
Zum einen waren die 11 Franken pro Stunde (siehe Infobox) nicht Motivation genug, um lange da zu bleiben. Zum anderen trugen die acht- bis zehnstündigen Schichten mit einer knapp halbstündigen Pause auch nicht zur Aufrechterhaltung der Arbeitsmoral bei. Hinzu kam, dass der Laden bis um Mitternacht geöffnet ist, sodass drei Uhr morgens zu meiner regulären Schlafenszeit wurde. Mit vier Schichten pro Woche kam ich auf klägliche 1’100 Franken monatlich. Mit Trinkgeld auf knapp 1'600 Franken. Dennoch, ein Hungerlohn. Nach einem Monat hatte auch dieser Job sein Ablaufdatum erreicht. Was von der Zeit bleibt: ein neu erwachter Heisshunger auf Süsses, eine picklige Stirn von der Baseballmütze und Freunde, die mich mit Eiscreme versorgen.
Ein Jahr, viele Jobs und noch mehr mitternächtliche Google-Suchen («how to make money in NYC») später, schätze ich mich noch immer glücklich, hier so vieles ausprobieren zu dürfen und mich durchschlagen zu können.
Mittlerweile arbeite ich unter anderem als freischaffende Übersetzerin und Korrektorin für amerikanische Firmen, wo ein Stundenhonorar von 30 Franken als gut angesehen wird. Über meinen tatsächlichen Stundenlohn ist es mir gemäss Arbeitsvertrag verboten, zu sprechen. Schweizer Freunde müssen ihre Kinnlade festhalten, wenn ich ihnen vom bescheidenen Betrag erzähle. Amerikanische Freunde nicken anerkennend und raten mir, den Job bloss nie aufzugeben.
Die Idee, dass ich mithilfe eines Nebenjobs, einen nennenswerten Betrag dazuverdienen kann, habe ich verworfen – und schlage mich weiterhin als Selbstständige durch. Sollte die Gefahr bestehen, dass ich vor die Hunde gehe, kann ich noch immer zurück zu den Hunden – die Gassigeher-Firma hat mir versichert, dass ich jederzeit bei ihnen willkommen bin.