Max Jaeggi steht vor seiner Stammbeiz am Rande des Städtchens Solothurn, zieht an seiner Tabakpfeife und rückt seinen Lederhut zurecht. Eigentlich möchte er nicht mehr über den Fall reden, der ihn schon sein halbes Leben lang beschäftigt. Doch nachdem kurz vor Weihnachten in Rupperswil vier Menschen ermordet wurden und die Polizei seither im Dunkeln tappt, ist sein Fall ein weiteres Mal in aller Munde – und bei Jaeggi die Erinnerungen an eines der schwersten ungelösten Verbrechen in der Schweiz wieder ganz aktuell.
«Das Erste, das mir durch den Kopf ging als ich von den Rupperswiler Morden hörte, war: Die Polizisten, die jetzt in die Hosen müssen, das sind arme Kerle.» Jaeggi weiss, wovon er spricht.
Am 6. Juni 1976, vor fast 40 Jahren, sass er an diesem Pfingstsonntag am Esstisch, als jener Anruf einging, der sein Leben verändern sollte. Jaeggi solle umgehend hoch kommen zum «Waldeggli» in Seewen, fünf Menschen seien umgebracht worden in einer kleinen Hütte, es eile. Jaeggi, damals Fahnder bei der Kantonspolizei Solothurn, fuhr sofort los.
Zwei Kollegen waren schon am Tatort. Was sie vorfanden, war auch für die erfahrenen Polizeibeamten erschreckend. Vier Tote in der kleinen Hütte, dazu eine Leiche auf der Veranda – in einen Teppich gewickelt. Jaeggi ging zum Kofferraum seines Pikettfahrzeuges und holte seine mobile Schreibmaschine heraus. «Es war eine herkömmliche Hermes, noch ohne Automatik». Die ersten Stunden nach einer Tat seien die wichtigsten. Alles musste rasch gehen. Gegen 30 Beamte bildeten eine Sonderkommission. «Der Druck der Öffentlichkeit und der Medien war riesig.»
Der Druck auf die Fahnder, da ist sich Jaeggi sicher, wird auch im Fall Rupperswil nicht abnehmen. «Die müssen allem nachgehen, wirklich allem.» Sonst komme irgendwann die Retourkutsche. Im Fall Rupperswil stehen laut Fiona Strebel von der Staatsanwaltschaft Aargau mittlerweile 40 Ermittler im Einsatz. Weil sich der brutale Vierfachmord kurz vor Weihnachten abspielte, mussten einige ihre freien Festtage streichen, andere aus den Ferien zurückkommen.
In dieser Phase müsse alles in Betracht gezogen werden, weiss Fahnder Jaeggi. Fragen wie: War es eine Familienfehde, ein Spionageakt, hat es etwas mit einer Liebesgeschichte zu tun? müssten gestellt werden. «Nicht nur am Anfang, immer wieder.»
Die erste Nacht arbeiteten Jaeggi und seine Kollegen durch. Danach stellte er ein Feldbett in seinem Privatauto auf, er war ständig unterwegs. Wenige Tage nach der Bluttat von Seewen bekam die Polizei den ersten wichtigen Hinweis. Der Wissenschaftliche Dienst hatte die Untersuchung der 13 Patronenhülsen, die am Tatort zurückblieben, abgeschlossen und kam zum Schluss: bei der Tatwaffe handelt es sich um ein Winchester-Gewehr.
«Dieser Hinweis war enorm wichtig. Darauf konnten wir aufbauen», sagt Jaeggi. Das sei ein grosser Unterschied zu Rupperswil, wo es nicht so aussieht, als gebe es eine Spur. Eine Tatwaffe wurde bislang nicht gefunden. Weder die mehreren Dutzend Hinweise aus der Bevölkerung noch die Dash-Cam-Auswertungen, die die Aargauer Polizei vornimmt, haben bislang zum Durchbruch verholfen.
Moderne Technik hatte Jaeggi damals nicht zur Verfügung – kein Internet, keine DNA-Analysen – aber er hatte die Spur mit dem Winchester-Gewehr. «Wir klapperten alle Waffenhändler ab». Die Ermittler suchten sämtliche 3007 Besitzer von Winchester-Gewehren in der Schweiz auf. Am Tag acht nach der Tat fuhr beim «Waldeggli» ein Kran vor, hob das Wochenendhäuschen an und brachte es zur Spurensicherung nach Liestal. Die Beamten nahmen es komplett auseinander. Resultate blieben vorerst aus. Die Ermittler standen vor einem Rätsel und stellten sich folgende Fragen:
«Minutiös gingen wir alles durch. Wir suchten nach allen nur erdenklichen Verbindungen zu den Opfern. Wir telefonierten unzählige solche Verbindungen ab und erstellten für alles Karteien.» Während dieser Zeit dürfe man sich nicht aus der Ruhe bringen lassen trotz dem grossen Druck – und trotz der vielen Besserwisser. Selbst Wahrsager hätten sich zu dieser Zeit gemeldet. «Viele sagten uns, was wir zu tun hätten. Wir zogen Aktionen durch, von denen wir überzeugt waren, dass sie zu 99 Prozent zu keinem Ergebnis führten; aber wir mussten es tun, um zu beweisen, dass wir nichts unversucht lassen.» Rückblickend meint er: «Sie lassen dich nie in Ruhe!»
In dieser Phase stecken momentan die Rupperswil-Ermittler, und auch sie stehen vor einem Rätsel-Mord. Folgende Fragen sind ungeklärt:
Wie viel Arbeit die Suche nach den Antworten auf solche Fragen verursacht, zeigen Zahlen zum Fall Seewen eindrücklich:
Für Jaeggi und sein Team gab es lange kaum Freitage. «Darunter leidet die eigene Familie am meisten.» Seine Frau und seine zwei Söhne sah er viel zu wenig. «Oft gab es Tage, an denen ich um 2 Uhr nachts nach Hause kam und um 6 Uhr wieder zur Arbeit fuhr.» Hätte er all die Überzeit aufgeschrieben, hätte er zwei Jahre früher in Pension gehen können, sagt Jaeggi heute schmunzelnd.
Die Ermittler liessen nichts unversucht, wirklich weiter kamen sie aber nicht. «Nach einem halben Jahr begannen wir, unsere Tätigkeiten in diesem Fall herunterzufahren.» Trotzdem gab es immer wieder Arbeit im Fall Seewen. Und weil bei Jaeggi alles zusammenlief, jedes Dokument über sein Pult ging, begleitete ihn der Fünffachmord Jahrzehnte lang weiter. «Es war normale Polizeiarbeit, ohne Emotionen, die Hoffnung gaben wir jedoch nie auf.» Er habe immer wieder versucht, sich in den Täter hinein zu versetzen, um offene Fragen beantworten zu können. Ohne Ergebnis.
Bis im Herbst 1996. 20 Jahre nach der kaltblütigen Tat von Seewen geschah etwas unvorhergesehenes. Bei Renovierungsarbeiten in einem Haus in Olten wurde eine Küchenkombination entfernt. Dabei kam ein Hohlraum in der Mauer zum Vorschein und darin entdeckten Handwerker einen Pass, einen Versicherungsbeleg, Briefe mit nationalsozialistischem Inhalt und ein Gewehr. Bei der Waffe handelte es sich um eine Winchester, der Pass lautet auf den Namen Carl Doser. Doser war einer der Winchester-Besitzer, den die Polizei nach der Tat befragt hatte.
Jaeggi stürzte sich wieder auf den Fall. Die Winchester wurde ballistisch getestet und das Resultat liess keine Zweifel offen: Das abgesägte Gewehr war die Tatwaffe. Doser allerdings war verschwunden. Jaeggi liess ihn zwar international ausschreiben, aber der Mann war unauffindbar. Es gab Gerüchte, wonach sich Doser nach Afrika abgesetzt hatte. Doch der «Fall Seewen» gilt bis heute als ungelöst.
Mittlerweile ist die Akte geschlossen, seit 2006 ist der Fall Seewen so genannt «absolut verjährt». In diesem Jahr jährt sich das grösste ungeklärte Verbrechen der Schweizer Kriminalgeschichte zum 40. Mal. Bleibt es für immer ungelöst? «Wohl schon», meint Jaeggi knapp. «Ich weiss, dass Carl Doser in irgend einer Form am Mord beteiligt war. Finden werden wir ihn aber nicht mehr, vielleicht ist er bereits tot, von Löwen gefressen oder so.» Schlecht schlafe er deswegen nicht. «Ich habe bewusst kein Internet, das hilft.» Ganz loslassen wird ihn der Fall allerdings nie. Es höre nie auf, immer wieder «tröpfle etwas rein». «Ob von einem Polizist oder einem Staatsanwalt – ich bekomme auch heute noch Anrufe.»
Eine Einschätzung zu Rupperwil wagt er aus der Ferne und ohne Kenntnis zu den Einzelheiten nicht. Eine Aussage macht er jedoch: «Der oder die Täter gingen wirklich brutal vor. Hätten sich weitere Leute im Haus aufgehalten, hätte es bestimmt noch mehr Tote gegeben.» Was er nicht versteht und sich immer wieder fragt: «Warum musste die junge Frau, die nicht zur Familie gehörte, auch sterben?»