Die Akademie der Medizinischen Wissenschaft (SAMW) will die Ethikrichtlinien für ärztliche Sterbehilfe lockern. Neue Standards sollen Ärzten bei der Entscheidung helfen, ob und wie sie sterbewillige Patienten unterstützen wollen oder sollen.
Die Richtlinien, die in die Vernehmlassung gehen, zeigen auf, in welchen Situationen die Freitodbegleitung vertretbar ist. Danach müssen Patienten urteilsfähig sein und ihr Suizidverlangen gut überdacht haben. Ausserdem dürfen sie keinem äusseren Druck ausgesetzt sein.
Eine Lockerung und liberale Haltung bringen die Richtlinien auch bei den Voraussetzungen zur Sterbehilfe. So sollen Ärzte nicht nur todkranke Patienten im letzten Stadium beim Sterben unterstützen dürfen, sondern auch Menschen mit schweren Krankheiten wie massive Depressionen oder einem chronischen neurologischen Leiden. Sogar der Altersfreitod von Patienten mit mehreren Gebrechen soll möglich werden.
Sollten diese neuen ethischen Richtlinien umgesetzt werden, wäre dies ein Quantensprung bei der Sterbehilfe.
Für Gegner der Freitodbegleitung, die sich aus christlich-moralischen Gründen dagegen wehren, sind diese Standards des Teufels. Nur Gott darf über Leben und Tod entscheiden, argumentieren sie. Sterbebegleitung ist für sie wie Abtreibung eine Todsünde. Menschen dürfen ihrer Meinung nach nicht in Gottes Handwerk pfuschen.
Die religiöse Argumentation ist scheinheilig. Sollte Gott für das Leben zuständig sein, so verantwortet er auch das unsägliche Leid, das viele Menschen erdulden müssen. Da müssen sich fromme Christen nicht wundern, dass leidende Menschen ohne Lebensqualität und Zukunftsperspektive nur noch einen Wunsch haben: So schnell wie möglich zu sterben, ohne Gott um Erlaubnis zu fragen.
Es gibt aber auch weltliche Gründe, den Sterbewunsch von leidenden Menschen zu erfüllen. Zum Beispiel die Selbstbestimmung. Diese ist das ganze Leben hindurch ein entscheidender Faktor, der geistige Autonomie und Würde garantiert. Und der wichtig ist für eine erfolgreiche Lebensgestaltung. Persönlichkeiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie selbstbestimmt durchs Leben gehen.
Doch ausgerechnet diese Werte sollen in der letzten Lebensphase nicht mehr gelten? Die Gegner der Freitodbegleitung verweisen gern auf die Palliativmedizin, die leidenden Menschen erfolgreich die Schmerzen nehmen könne. Das stimmt nicht absolut. Es gibt aggressive Krebserkrankungen, bei denen selbst Morphinpräparate nur bedingt wirken.
Ausserdem verabreichen Palliativmediziner oft derart starke Dosen an Schmerzmitteln, dass die todkranken Patienten völlig sediert sind und apathisch vor sich hinvegetieren. Diese Medikamente beschleunigen das Ableben in vielen Fällen. Da ist der Unterschied zur Freitodbegleitung nicht mehr sehr gross. Palliativmedizin ist oft Sterbebegleitung in Raten.
Das Lebensende kann sehr entwürdigend sein. Wir zerfallen körperlich und geistig und verlieren die Kontrolle über das Leben und unseren Körper. Bei einer schweren Demenz werden manche Patienten aggressiv, das Hirn zerbröselt, sie erkennen ihre Kinder nicht mehr, scheissen in die Hosen und können nicht mehr selbständig essen.
Dies möchte ich dem Pflegepersonal, meinen Angehörigen und mir unter allen Umständen ersparen. Was kann daran so falsch sein?
Spielt es denn eine Rolle, ob ich bei guter Lebensqualität 85 Jahre werde oder noch ein paar Monate unwürdig ausharre?
Ein weiterer Grund spricht für die Freitodbegleitung. Sie kann mithelfen, schreckliche Suizide zu verhindern. Man denke nur an den Anblick von Angehörigen, deren Kopf von einer Pistolenkugel zerfetzt ist, die sich vor den Zug geworfen haben oder die von einer Brücke gesprungen sind. Ganz abgesehen davon, dass die Betroffenen durch die Hölle gegangen sind.
Das Hauptargument der Gegner: Wenn die Hürden zur Freitodbegleitung kleiner werden, wächst der Druck auf alte und kranke Leute, aus dem Leben zu scheiden. Und irgendwann könnten auch pekuniäre Argumente eine Rolle spielen, sagen sie: Die Pflege alter, kranker Patienten sei nicht mehr finanzierbar oder fresse das Erbe der Nachkommen auf, weshalb sich alte Menschen verpflichtet fühlen könnten, freiwillig aus dem Leben zu scheiden.
Diese Argumente sind kaum stichhaltig. Die Gegner vergessen, dass es eine gehörige Portion geistige Kraft und Mut braucht, das wochenlange Prozedere der Vorbereitung durchzustehen und letztlich das tödliche Pentobarbital zu schlucken. Kraft und Mut, die kranke und geschwächt alte Menschen selten aufbringen.
Ich bin deshalb überzeugt, dass nur eine verschwindend kleine Prozentzahl der todkranken und lebensmüden Patienten noch über diese Courage und Energie verfügt.
Es ist schon erstaunlich, mit welcher Energie und Vehemenz die Gegner der Freitodbegleitung für ihr Anliegen kämpfen. Würden sie diesen Einsatz in armen Ländern mit Armut und einer schlechten Gesundheitsversorgung leisten, könnten sie das Leben von vielen Kindern und jungen Leuten retten, die die Zukunft noch vor sich haben.
PS: Ich bin Mitglied des Patronatskomitees der Sterbehilfeorganisation Exit. Ich habe aber schon vor der Übernahme dieses Amtes die Ansicht vertreten, dass die Sterbehilfe bei unerträglichem Leiden und unheilbaren Krankheiten, die die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigen, sinnvoll sein kann.