Die christlichen Kichen sind stolz, dass sie den Geist und die Kultur des Abendlandes entscheidend prägten. Besonders stolz sind sie auf die zivilisatorische und kulturelle Entwicklung. Sie nehmen auch sehr gern für sich in Anspruch, die Begründer und Hüter von Moral und Ethik zu sein.
Fromme Christen sind denn auch überzeugt, dass ohne Jesus Christus und seinem Tod am Kreuz die Entwicklung der Menschheitsgeschichte vom Nahen Osten über Europa bis in die USA anders verlaufen wäre. Ganz anders. Barbarisch nämlich.
Die Selbstbeweihräucherung geht noch weiter. Viele geistliche Würdenträger behaupten, dass im Schoss der Kirche viele natur- und geisteswissenschaftlichen Entwicklungen ihren Ursprung hatten. Und dass die Menschenrechte auf den Errungenschaften der christlichen Heilslehre fussen. Manche Fromme reklamieren auch die Aufklärung – mindestens teilweise – für sich. Das ist nicht grundsätzlich falsch, aber allerhöchstens die halbe Wahrheit.
Denn viele dieser Aspekte sind Mythen. Mythen, um den Glanz der Kirchen aufzupolieren. Man könnte es auch Propaganda oder PR nennen. Oder ein Versuch, die Geschichte umzuschreiben oder von den Skandalen abzulenken.
Pflücken wir nur den Anspruch heraus, die Kirchen seien Gralshüter von Moral und Ethik. Obwohl das Gebot «Du sollst nicht töten» sehr zentral ist, war selbst Jesus Christus nicht nur friedlich. Erwähnt sei sein Spruch, er sei nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Auch seine Hinweise auf das Jüngste Gericht sind heftig.
Davon wird in den Osterpredigten kaum die Rede sein. Man muss Jesus aber auch zugute halten, dass er grundsätzlich eine Kutur des friedlichen Miteinanders propagierte und sich für die Armen und Geknechteten einsetzte.
Trotzdem hegte auch Johann Wolfgang von Goethe Zweifel: «Die Geschichte des guten Jesus hab ich nun so satt, dass ich sie von keinem, ausser von ihm selbst, hören möchte.»
Historisch verbrieft ist hingegen, dass die katholische Kirche bis in die Neuzeit dem christlichen Credo von Moral und Ethik nicht nachlebte. Die blutige Spur, die sie hinter sich herzog, ist belegt. Unbestritten ist auch, dass sie Steigbügelhalter von politischen Despoten war, die ihre Völker knechteten.
Wenn also die christlichen Kirchen für sich reklamieren, die humanistischen Entwicklungen gefördert zu haben, ist dies über weite Strecken eine Geschichtsklitterung. Denn: Nicht sie haben die Standards gesetzt und die zivilisatorischen Prozesse gefördert, vielmehr hat die Zivilgesellschaft mit ihren geistigen und kulturellen Errungenschaften die Kirchen gezwungen, sich anzupassen und ihre autoritären und repressiven Verhaltensweisen teilweise aufzuweichen.
Wie nötig der zivile Druck auf die christlichen Kirchen war, zeigt ein aktuelles Beispiel. Ein in dieser Woche publizierter Untersuchungsbericht dokumentiert, dass der Kapuzinermönch Joël Allaz von 1958 bis 2003 unzählige Knaben sexuell missbraucht hat. Eines der Opfer, Daniel Pittet, hat die Übergriffe in seinem Buch «Mon Père, je vous pardonne» festgehalten.
Der Kapuzinerorden wusste davon, die Kirche auch. Sie schauten weg, vertuschten die Missbräuche. Statt ihn der Justiz zu übergeben, versetzten sie den pädophilen Mönch mehrfach. Der Ruf war dem Orden und der katholischen Kirche wichtiger als die Gewaltopfer. Wie wir wissen, ist Daniel Pittet nur eines von Tausenden Opfern weltweit
Ohne Aufklärung und Druck durch die Zivilgesellschaft würde die katholische Kirche heute noch ihre Verbrecher in den eigenen Reihen decken. Sie tut es ja teilweise heute noch. Doch davon werden die Gläubigen nichts hören, wenn die prunkvoll gekleideten Geistlichen an Ostern auf die Kanzel steigen.