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Der Teufel und der Tod des 4-Jährigen

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Der Teufel und der Tod des 4-Jährigen: Der fatale Weg zur Entmenschlichung

20.03.2021, 07:59
Hugo Stamm
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Eines der schlimmsten Kapitel in der Religionsgeschichte ist der Glaube an dunkle Mächte, Dämonen oder den Satan. Diese Figuren, die das Böse und die Versuchung verkörpern, lösen bei vielen Gläubigen und vor allem Kindern existentielle Ängste aus. Es gibt kaum ein stärkeres Instrument der Indoktrination und Unterdrückung als die Drohung mit satanischen Gestalten, die angeblich über teuflische Kräfte verfügen.

Dieses Phänomen ist deshalb besonders heimtückisch, weil die meisten Glaubensgemeinschaften diese dunklen Mächte in ihre Heilslehre integriert haben.

Es stellt sich die Frage, weshalb dem so ist. Einerseits versprechen Glaubensgemeinschaften die Erlösung und verkünden frohe Botschaften, andererseits verknüpfen sie diese mit dem Wirken von dunklen Mächten auf der Erde.

Untersuchung eingestellt

Was der Glaube an den Satan und die bösen Mächte mit Menschen machen kann, zeigt der Tod eines vierjährigen Knaben im deutschen Hanau. Ein Fall, der in die Kriminalgeschichte eingegangen ist.

Am 17. August 1988 starb das Kind unter mysteriösen Umständen. Die Mutter behauptete, ihr Sohn Jan. H. sei an Erbrochenem erstickt. Polizei und Staatsanwaltschaft gaben sich mit der Erklärung zufrieden und gingen von einem Unfall aus. Deshalb ordneten sie auch keine Obduktion an und stellten die Untersuchung ein.

Die Eltern des Knaben waren Mitglieder einer spirituellen Gruppe, die sich um das Hanauer Ehepaar Sylvia und Walter D. scharte. Die Krankenschwester und der freikirchliche Pastor wirkten auf die Teilnehmer vertrauenswürdig.

Sylvia D. entwickelte im Lauf der 1980er-Jahre eine synkretistische Heilslehre aus esoterischen, christlichen und okkulten Elementen und gebärdete sich zunehmend als spirituelle Führerin, wie ehemalige Anhänger später berichteten. Das Ehepaar behauptete, mit Gott kommunizieren und dank ihrer spirituellen Kräfte satanische Energien bannen zu können.

Ein Vierjähriger als notorischer Sadist

Dann vergingen Jahrzehnte. Die Gruppe mit rund 20 Teilnehmern bildete eine Lebensgemeinschaft und radikalisierte sich. Unter ihnen gebildete Leute wie ein Professor, ein Richter und mehrere Akademiker. Der Tod des Vierjährigen kümmerte niemanden mehr und geriet in Vergessenheit.

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Die Wende kam 2014. Eine Anhängerin konnte sich aus der Gemeinschaft befreien und wollte ihr Gewissen entlasten. Sie erzählte ihre dramatische Geschichte einem Reporter des Hessischen Rundfunks. Dieser publizierte seine akribischen Recherchen, was die Staatsanwaltschaft zwang, den Fall des vierjährigen Jan neu aufzurollen. Sie fand bei den Untersuchungen Hinweise, dass der kleine Jan vermutlich nicht an einem Erstickungsunfall gestorben war. Die Resultate der Untersuchungen schockierten die Öffentlichkeit.

Es stellte sich heraus, dass die Mutter gemeinsam mit Sektenchefin Sylvia D. – ihr Ehemann war inzwischen verstorben – Jan schon länger malträtiert hatten. Die angebliche Gesandte Gottes erklärte der Mutter, ihr Sohn sei eine Inkarnation Hitlers und somit ein notorischer Sadist. Als solcher sei er von dunklen Mächten besessen.

Die beiden Frauen quälten die «Inkarnation Hitlers». Jan war zur Zeit seines Todes völlig unterernährt und abgemagert. Was der Staatsanwaltschaft und den Polizisten, die den Tod des Knaben untersucht hatten, offenbar nicht aufgefallen war.

Die Staatsanwaltschaft klagte die Sektenchefin schliesslich an. Die neuerlichen Untersuchungen hatten ergeben, dass die Mutter ihr den kleinen Jan in einem verschnürten Leinensack Sylvia D. in Obhut gegeben hatte. Es war ein heisser Sommertag.

Die Sektenchefin liess den Knaben, der panisch schrie, im Badezimmer liegen. Er fiel in Ohnmacht und erstickte qualvoll an seinem Erbrochenen. So beschrieb es die Staatsanwaltschaft.

Anklage auch gegen die Mutter

Die inzwischen 73-jährige Sektenchefin wurde im vergangenen September vom Hanauer Landgericht wegen Mordes zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe verurteilt. Somit stand fest, dass auch die Mutter mitschuldig am Tod ihres Sohnes sein könnte. Sie wurde sofort in Untersuchungshaft gesetzt.

Die Staatsanwaltschaft wirft der inzwischen 60-jährigen Mutter einen mutmasslichen gemeinschaftlich begangenen Mord vor und klagte sie in diesen Tagen an. Der Prozess wird in Deutschland mit Spannung erwartet.

Der Fall zeigt exemplarisch, dass sektenhafte Indoktrination und Verblendung zu einer Entmenschlichung führen können. Der Realitätsverlust zerstört auch das ethische und moralische Empfinden. Dann wird auch der Tod eines Kindes im Namen Gottes problemlos als Strafe des Allmächtigen hingenommen.

Dieses Phänomen trifft sowohl auf die radikalen Sektenführer als auch ihre Anhänger zu. Wobei Letztere teilweise Opfer der Gehirnwäsche sind. Trotzdem können sie sich nicht aus der Verantwortung stehlen.

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Hugo Stamm; Religionsblogger
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Glaube, Gott oder Gesundbeter – nichts ist ihm heilig: Religions-Blogger und Sekten-Kenner Hugo Stamm befasst sich seit den Siebzigerjahren mit neureligiösen Bewegungen, Sekten, Esoterik, Okkultismus und Scharlatanerie. Er hält Vorträge, schreibt Bücher und berät Betroffene.
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277 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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HeidiW
20.03.2021 08:22registriert Juni 2018
Das erschreckende an diesem Fall ist auch die Tatsache, dass er exemplarisch aufzeigt, dass Intelligenz und Bildung einem vor einer Radikalisierung nicht schützt. Warum Menschen sich Radikalisieren ist wenig erforscht. Man weiss zwar, dass die Ursachen sehr Vielschichtig sind, dazu gehören ausgeschlossen sein, Verbitterung, Frust, Erfolglosigkeit, oder diese Menschen neigen zur Polarisierung. Eine „Erkrankung“ psychisch oder physisch trifft meistens nicht zu.
2026
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Zwiebel
20.03.2021 08:14registriert März 2020
Lieber Herr Stamm, ich bin nicht immer ihrer Meinung, aber bei solchen Artikeln bin ich immer Dankbar dass sie nicht aufhören sich immer weiter für die Aufklärung einsetzen.
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Natürlich
20.03.2021 08:36registriert März 2016
Einfach nur schrecklich und abscheulich diese Geschichte. Es macht einem fassunglos wie Menschen so sein können.
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277
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Ich war für ein Wochenende in Davos und habe eine kleine Analyse und eine Nummer für euch mitgebracht.

Wer in Zürich jemanden kennenlernen will, so im echten Leben, in einer Bar oder einem Club, ich rede hier nicht von den ganz verrückten Dingen, die nur in Filmen passieren, wo sich Leute am helllichten Tag auf dem Trottoir kreuzen und so verzaubert sind, dass sie umdrehen und einander auf der Stelle ehelichen, nein, ich rede hier vom billigbanalen, promillebedingten Ansprechen an Orten, wo man sich kaum sieht und hört, davon rede ich, und auch das passiert in Zürich nie. Mir nicht, meinen Freundinnen und Freunden nicht und dir ganz bestimmt auch nicht. Ausser vielleicht, du siehst aus wie Jennifer Lawrence. Aber wer sieht schon aus wie Jennifer Lawrence? Eben.

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