Betrachtet man die Entwicklung aus religiöser Perspektive, gehen christliche Werte vor die Hunde. Barmherzigkeit und Nächstenliebe scheinen im Haifischbecken der Diktatoren und Autokraten zu nostalgischen Attributen zu verkommen. Da werden die löblichen Friedensappelle des alten und neuen Papstes zu Randnotizen, um das Gewissen zu beruhigen. Papst Leo XIV. kann beten, solang er will, Putin, Netanjahu und Co. werden ihre Kriegsziele nicht ändern. Und Gott fällt den Schächtern kaum in den Arm.
Zu allem Überfluss schlagen sich viele konservative Christen auf die Seite der machthungrigen Führer. Ein Phänomen, das einen eigenen Begriff hervorbrachte: Die superfrommen Christen werden als «christliche Nationalisten» bezeichnet. Diese Gläubigen formten sich vor allem in den USA zu einer mächtigen Bewegung. Angestachelt vom Trump-Slogan «America first», wollen sie ihren Glauben der Politik überstülpen. Sie haben Trump zum Wahlsieg verholfen, nun soll der Präsident ihre Dogmen durchpeitschen. Die da sind: Abtreibungsverbot, Schöpfungslehre in den Schulen propagieren, Homosexuelle ausgrenzen, queere Menschen stigmatisieren und die Wokeness-Kultur bekämpfen. Und der Sünder Trump, der von vielen Evangelikalen als der neue Messias verehrt wird, dreht das Rad der Zeit munter zurück.
Glaubensbruder Trump erfüllt ihre Wünsche offenkundig mit grossem Vergnügen. Die gläubigen Nationalisten sind überzeugt, dass die USA der christliche Nabel der Welt sind. Die Politik soll sich nach den fundamentalistischen Glaubenssätzen der Frommen richten. Für sie sind letztlich die Bibel und ihre Gebote die Richtschnur, die sie am liebsten in der Verfassung verankert sehen. Sie sind überzeugt, von Gott auserwählt und gesegnet zu sein. Ihr Fernziel: die Theokratie, in der die religiösen Führer den Staat lenken.
Das rennomierte Meinungsforschungsinstitut Pew Research Center führte kürzlich eine Untersuchung zu diesem Thema durch. Das Ergebnis: 72 Prozent der befragten Protestanten und 86 Prozent der weissen Evangelikalen gaben an, die Bibel solle Einfluss auf die Gesetzgebung in den USA haben.
Gläubige Nationalisten sind auch viele Mitglieder der Orthodoxen Kirche, die ihre Wurzeln ebenfalls im Christentum hat. Patriarch Kyrill, der höchste Geistliche, ist ein Bruder im Geist von Putin und gibt dem Krieg in der Ukraine seinen Segen. Mehr religiöse Perversion geht kaum.
Und in der Schweiz? Gibt es bei uns auch einen christlichen Nationalismus? Da die Ideologie des politischen Nationalismus in unserer Konkordanzdemokratie kaum salonfähig ist, kann er im religiösen Milieu nicht Fuss fassen. Ein überzogener Patriotismus findet man jedoch in beiden Bereichen. So betrachten viele Gläubige aus Freikirchen die Zuwanderung als grosse Gefahr. Ihr Argwohn gilt in erster Linie den Muslimen. Sie befürchten, dass diese überhandnehmen und die Christen schon in wenigen Jahrzehnten in die Minderheit versetzen werden, wie die SVP fälschlicherweise behauptet. Sie sehen bereits den Clash der Religionen und den Untergang der christlichen Tradition in der Schweiz.
Diese Vorurteile führen mitunter zu heftigen Aversionen gegenüber den Muslimen. So engagieren sich Gläubige gern in der Politik und versuchen, christliche Werte zu verankern. Doch wie vertragen sich ein strenger Glaube und das Streben nach weltlicher Macht? Die Schweizerische Evangelische Allianz (SEA), in der mehrheitlich Freikirchen aktiv sind, hat die Verstrickung von Glauben und Machtpolitik erkannt und im Rahmen ihrer kürzlichen Delegiertenversammlung thematisiert. Die Fragestellung: «Ist es christlich, Christen in allen Gesellschaftsbereichen in Machtpositionen zu bringen und Gesetze gemäss christlichen Werten zu verabschieden?» Das Thema: «Heilige Nation!? Eine kritische Auseinandersetzung mit nationalistischer Politik unter christlichem Deckmantel». Als Referent lud die SEA Jeff Fountain vom Schuman Centre for European Studies ein.
Der Gastredner forderte die Delegierten zum kritischen Hinterfragen des christlichen Nationalismus auf, der aktuell in mehreren Ländern zu beobachten sei. Die Vermischung von Glauben und Macht zeige sich derzeit bei verschiedenen Führungspersönlichkeiten, die christliche Rhetorik gezielt zur Stärkung ihrer Machtposition nutzten, sagte Jeff Fountain. Er riet, auf die Früchte solchen Gebarens zu achten: «Bringt es Nächstenliebe und Dienst am Mitmenschen hervor – oder setzt es andere herab, um sich selbst zu erhöhen?» Es ist den Verantwortlichen der Allianz hoch anzurechnen, dass sie die Gefahr der unheiligen Entwicklung erkannt und die Delegierten sensibilisiert haben. Bleibt zu hoffen, dass die Botschaft auch bei den gläubigen Politikern und an der Basis ankommt.