Dies ist keine neue Erkenntnis. Aber bei meinem jüngsten Italien-Roadtrip wurde ich wieder mal daran erinnert:
Tendenziell tüfteln wir viel zu fest bei unserem Geköche rum. Manchmal ist weniger mehr.
Zur Illustration hier ein paar Beweisstücke:
Sehet, ihr demütigen Sterblichen, diese göttliche Schöpfung! Piemontesische tajarin sind das, und in jenem Restaurant in Intra am Lago Maggiore, das ich schon seit 30 Jahren frequentiere (Gott, bin ich ALT, uff!), werden sie al burro e salvia serviert. Mit heisser Butter und darin knusprig gebratenem Salbei. That's it.
Teil eines kleinen Katerfrühstücks in Chiavari, Ligurien. Man beachte mal genauer die Focaccia. Gesehen? Nix da mit aufwendigen Toppings. Nicht einmal Rosmarin ist dort drauf. Ist halt eine authentische ligurische Focaccia – die Unterseite leicht (aber nur leicht) knusprig, oben ein wenig gebräunt, und die fingergrossen Einbuchtungen sind schön fettig und butterweich.
Oder hier, inzwischen in Riparbella in der tiefsten Toskana angelangt, gab es urchige toskanische Kost:
Pappardelle alla lepre – Feldhasen-Ragù also (ja, wir sind hier in der Toskana – hier schiesst man auf alles, was sich bewegt, und verwandelt es dann in etwas Schmackhaftes). Die war so urchig wie nur möglich – einschliesslich der ein oder anderen Schrotkugel (die ich zum Glück bemerkte, bevor ich mir eine Zahnplombe ausbiss).
Und zum Dessert gab es mattonella ai pinoli, was letztendlich ein simpler Semifreddo mit Pinienkernen ist, hier serviert mit einem gehörigen Gutsch Karamellsirup:
Ich bin mir sicher, dass ihr alle checkt, auf was ich hinaus will: Feines Essen muss nicht kompliziert oder kreativ oder kunstvoll sein. Nicht einmal Restaurantessen.
Um meine Beweisführung weiter zu erläutern, hier – ebenfalls jüngst aus Italien – ein ...
Im selben toskanischen Städchen, kaum 100 Meter von der bodenständigen Osteria in Cantina, in der es obige Schrotkugel-Pappardelle gab, wurden diese gnocchi di patate viola con crema di topinambur, crudo croccante e scaglie di pecorino feilgeboten:
Also: Gnocchi aus violetten Kartoffeln, serviert an einer Topinambur-Creme mit knusprig gebratenem Prosciutto Crudo und Pecorino-Spänen. Leute, es war durchaus deliziös. Aaaaaaber ... nicht so deliziös, wie der imposant klingende Menükarteneintrag vermuten lassen würde. Ja, die Gnocchi waren schön kartoffelig und auch die weiteren Einzelkomponenten waren fein. Doch trotzdem gab es rein vom Geschmack her viel weniger jenen «Wow»-Effekt wie etwa bei den oben gezeigten tajarin, die mit gerade mal etwas Butter und ein paar Blättern Salbei serviert wurden.
Wie ein Restaurant-Chef auf so was wie jene violette-Gnocchi-Kombo kommt, liegt auf der Hand: Man will den Gästen etwas bieten. Etwas Kreatives. Etwas Raffiniertes.
Ein solcher Ansatz entsteht auch gerne mal zu Hause, wenn man selbst am Herd ist: Da brät man seinen Knoblauch im Olivenöl an und denkt: «Hmm, ich hätte noch Speck im Kühlschrank.» Und Bratspeck ist ja fein – also gibt man etwas davon mit in die Pfanne. Und Oregano ist auch fein – rein damit. Und, hey, mit Rahm ablöschen ist nie falsch, oder? Gewiss, das Endresultat ist schmackhaft. Aber die Einzelzutaten kommen weniger zur Geltung, weil nun alles in einem Umami-Wischi-Waschi aufgelöst ist.
Im Gegensatz dazu stehen diese tortelli d'erbetta:
Tortelli d'erbetta: Gegessen in Parma, Emilia-Romagna, ist jene mit Krautstiel gefüllte Pasta eine emilianische Spezialität. Nicht allzu sehr gefüllt übrigens, wie ihr hier sehen könnt, und lediglich mit ein wenig geschmolzener Butter serviert und etwas geriebenem Parmesan. Der Geschmack der Pasta kommt zur Geltung. Der des Krautstiels ebenfalls. Und beides komplementiert mit der Butter und dem Käse.
Die Intensität des Geschmacks entsteht aus ihrer Subtilität.
Okay, ich glaube, ich habe meinen Standpunkt klargemacht – womit dieses letzte Beispiel eigentlich überflüssig wäre ... aber egal (weil geil):
Agnolotti al plin con sugo d'arrosto – womit wir uns wieder im Piemonte befinden. Hier auch: kein Schnickschnack. Dies, weil ein sugo d'arrosto – der Jus des Bratens, der als secondo serviert werden kann – derart geschmacksintensiv ist, dass schlicht nichts mehr nötig ist. Genau wie jene focaccia genovese kein Topping benötigte. Oder die tortelli keine Tomatensauce benötigten. Und auch die mattonella benötigte keinen Schlagrahm.
Wenn die Zutaten von guter Qualität sind, braucht es weniger davon. So kommen deren Geschmacksnoten besser zur Geltung.
Ich bin mir bewusst, dass meine Beweisführung etwas Pasta-lastig ist, doch dasselbe gilt auch für einen guten Fisch vom Grill. Ist er frisch und schmackhaft, braucht es lediglich ein wenig Salz und Pfeffer und ein paar Spritzer Zitronensaft. Ebenso ein gutes Stück Fleisch. Oder jener coniglio im Ofen: ein Rosmarin-Zweig und gut ist.
Halten wir uns doch alle mal zurück, wenn wir beim Kochen instinktiv zum Rahm, zur Streuwürze, zur Kräutermischung greifen! Lasst uns der Versuchung widerstehen, «kreativ» oder «raffiniert» zu werden! Lassen wir stattdessen den Geschmack unserer wenigen einfachen Zutaten hervortreten!
Denn manchmal ist weniger mehr.