Menschen haben Hobbys. Also, hatten Hobbys – das weiss ich noch aus meiner Kindheit. Tennisspielen, Angeln, Ballett.
Nach dem geregelten Alltag einer weiteren geregelten, wöchentlich genau dosierten Freizeittätigkeit nachzugehen, schien für die meisten Mittelschichtsfamilien eine logische Angelegenheit zu sein. Da geht man hin, da denkt man nicht gross darüber nach, warum. Wichtig ist, Unterwäsche zum Wechseln mitzuhaben und den Ball übers Netz zu kriegen. Zum Beispiel.
Irgendwann zwischen dem ersten Vollrausch und dem dritten Kuss hat sich meinerseits leider eine gewisse Abneigung gegen strikte Vorgaben anderer eingeschlichen und sich seither auch nicht wieder verabschiedet. Vergebens habe ich versucht, mit 17 zum Volleyballtraining zu gehen und mich anbrüllen zu lassen, weil ich die Linie beim Aufschlag übertreten hatte. Schon wieder! Auch das mit dem Singen machte keinen Spass mehr, sobald ich endlich eine Band hatte. Und so bin ich seit nun genau sechs Jahren glücklich hobbylos.
Keine Stammtische, zu denen ich trotz Unlust gehen muss. Keine zusätzlichen Weihnachtsfeiern, Sonnwendefeste im Burgenland, Missverständnisse in der Frage aller Fragen: Schlägst du auf oder ich?
2017 sollte alles anders werden, als ich online nach passenden Bewegungsmöglichkeiten für den vernachlässigten Bürostuhlkörper einer 25-Jährigen suchte. Nur anstrengend sollte es nicht sein, also dann irgendetwas Langweiliges ohne Laufen in Sporthallen und lästigen Aufwärmübungen, bei denen man im Zick-Zack über seine eigenen Beine fällt.
Nach der letzten Premiere von Olivier Dubois im hamburg'schen Kampnagel war ich der Meinung, Contemporary Dance für mich entdeckt zu haben wie anno dato orangefarbene Blocksträhnen und Mittelscheitel. Beim zeitgenössischen Tanz gehen Menschen blitzschnell aufeinander zu und dann wieder weg – kenn ich auch aus dem echten Leben, was soll daran bitte so schwer sein.
Insgeheim hatte ich ja darauf gehofft, nicht ganz so schnell fündig zu werden. Montagabend war es dann schon so weit. Ein idealer Tag, um gleichzeitig völlig übermüdet vom Wochenende und dem ersten Arbeitstag zu sein. Die Menschen um mich herum voller Hoffnung auf eine baldige Karriere als Spitzentänzerin. Ich, gekleidet in alten Strumpfhosen und unvorteilhaften Langarm-Shirts. Gleich müssen wir die Socken ausziehen. Es bleibt alles ein bisschen unangenehm.
Ich muss atmen und «meine Mitte finden». Die Haltung wahren, während ich von einem Fuss auf den anderen schwanke, immer im Hinterkopf, dass das alles Spass machen sollte, sich aber verdammt nochmal nicht so anfühlt wie Sportlager 2006. Die Wirbelsäule hoch und runter rollen, den Kopf locker hängen lassen (kann ich!), den Arm heben, die Knie beugen. Alles von vorne, alles für nichts.
Ich denke, dass das so sein muss, aller Anfang ist schwer, da ist jeder schlecht und hilflos und muss lernen von den Besessenen. Ich will nach Hause, aber ich komme wieder. Nach einer Einheit aufzugeben entspricht nicht meinem Gewissen. Da geht mehr.
Nächste Einheit, wieder dasselbe. Ich muss der Stimme der Trainerin lauschen, aber sie spricht nur Italienisch und ich weiss bis jetzt nicht, was sie mit «Troccento» meint, wenn sie mich zurecht weist. Stunde drei fühlt sich irgendwie zu spät an, um nachzufragen. Ob sie mal zeigen kann, wie das später bei uns aussehen soll? Sie sagt nein.
Tanzen kann ich noch immer nicht, ob das überhaupt ein realistisches Ziel ist für dieses bereits fortgeschrittene Leben, schliesslich fangen die meisten Tänzerinnen im Alter von drei Monaten mit den ersten Pirouetten an. Zum Glück kann ich mich nicht im Spiegel sehen, die Lehrerin weiss schon, warum wir in die andere Richtung gucken. Meine Hüfte fühlt sich gut an, wenn ich sie mit purer Willenskraft nach aussen drehe. Ein erster Erfolg.
Lilli fasst mir an den Arsch, genauer gesagt an mein Steissbein. Auch das muss sein. Knapp verfehlt sie mein Arschloch, während sie mich vorwärts «schiebt». Wir sollen so gegenseitig Vertrauen fassen und unser Becken spüren (oder so). Ich frage mich, ob ich jemals Vertrauen lernte, während jemand seine Finger in der Nähe meines Anus hatte.
Die nächsten Einheiten nutze ich ausschliesslich, um bevorstehende Aufträge geistig durchzuspielen. Ich nehme die Sache nämlich sehr ernst. Auf der Arbeit wissen alle, dass ich um 18 Uhr gehe, um pünktlich beim Training zu sein. Was für ein ordentlicher, verantwortungsvoller und motivierter Mensch und Mitarbeiter ich nicht bin. «Sport macht sie auch noch!», höre ich sie in der Küche flüstern. Ich habe eine Regelmässigkeit geschaffen, obwohl ich sie hasse und zwinge mich dazu, dranzubleiben, ohne Freude zu empfinden. Was für ein Erfolg!
Ich würde jetzt gerne ein Panini mit Ziegenkäse und Artischocke essen. Und während ich so darüber nachdenke; was alles besser wäre, weiss ich: es ist vorbei.
Ich scheiss auf mein neues Hobby, weil ich ein erwachsener, selbstbestimmter Mensch bin, der sich nicht etwas hingeben muss, das – aus welchen Gründen auch immer – nichts als Unwohlsein bei dem Gedanken daran hervorbringt.
Woran es gelegen hat? Sicherlich nicht an meinem Willen, den ich bewusst gebrochen habe. Vielleicht war es der falsche Kurs, der falsche Tag, die Kompetenz der Lehrerin oder mein nicht vorhandenes Durchhaltevermögen.
Fakt ist, dass Hobbys überbewertet sind. Was nicht natürlich kommt, werde ich in Zukunft vermeiden und wenn es bedeutet, dass ich ab sofort jeden Donnerstag um eins im Schwimmbad liegen und Zeitschriften lesen werde.
Lesen. Was gibt es Schöneres auf dieser Welt?