Benjamin Lüthi, das wird er hier selber noch sagen, hat gut verdient. Er war regelmässig in Restaurants anzutreffen. Nicht nur in den günstigen. Und er lebte in einer ziemlich schicken Wohnung. Jetzt kurvt Lüthi mit seinem Velo um die Ecke, schwingt sich vom Rad und begrüsst uns mit einem breiten Grinsen. Wir sind im Zürcher Kreis 4, hier wohnt Lüthi in einer WG im vierten Stock, einen Steinwurf von der Langstrasse entfernt. Hier hat vor einem halben Jahr sein Leben nach dem Fussball begonnen.
Statt vor tausenden Fans Fussball zu spielen servierst du jetzt Kaffee und studierst an der Universität Zürich. Ist das dein neues Leben?
Benjamin Lüthi: Tatsächlich. Neben meinem BWL-Studium, das ich noch während meiner Zeit als Profi begann, arbeite ich nun im Service im Café Lang.
Vom Millionär zum Tellerwäscher, könnte man fast sagen.
Millionär war ich nie. Aber es ist schon richtig, als Fussballer verdient man mehr als genug. Ich habe aber irgendwann gemerkt, das brauch' ich nicht. Ich brauche das viele Geld nicht, ich kann auch so leben und etwas anderes arbeiten. Ich hole mir die Glücksmomente an anderen Orten, das war sowieso schon immer so.
Du bereust deinen Schritt nicht ...
Der Entscheid, vom Fussball zurückzutreten, war richtig, das wusste ich schon vorher. Man muss sich sowas gut überlegen, denn es ist einmalig. Danach bist du weg.
Gab es denn dieses eine Erlebnis, wo du gemerkt hast: Es reicht!
Es war eine Entwicklung über mehrere Jahre. Der Entscheid kam dann in Kombination mit anderen Frusterlebnissen. Es wurde für mich generell immer schwieriger, den Fussballfrust auszublenden. Letztes Jahr im Juni habe ich mich dann in Reykjavík entschieden.
Du warst damals während der Europa-League-Qualifikation mit GC in Island. Was war geschehen?
Ich sass da in meinem Hotelzimmer in einem schönen Land, konnte aber nichts unternehmen, sondern wartete nur auf den nächsten Fixpunkt. Du isst, schläfst und trainierst nur noch. Es klingt von aussen vielleicht cool, ist aber gar nicht so lustig, wenn du noch andere Ansprüche ans Leben hast. Ich dachte irgendwann nur noch: Fuck, ich kann nicht mehr.
Bei den Fussballern geht es fast nur noch um Kleider und Aussehen, hast du in einem vielbeachteten Interview dem «Blick» gesagt. Du hattest wirklich einfach die Schnauze voll von gegelten Fussballern und dem Fussball-Business?
Die Liebe für den Fussball ging verloren. Für mich stand die Freude sowieso selten im Vordergrund. Ich hoffe, das kommt irgendwann wieder. Bisher war das nicht der Fall, ich habe seit meinem Rücktritt nie mehr Fussball gespielt.
Du wurdest mit 17 Profi. Hast du da schon gemerkt, dass das nicht deine Welt ist?
Ich kannte nichts anderes, für mich war Profifussball halt einfach so. Ich war 17, ging zur Schule und durfte Fussball spielen. Alles war super und ich machte mir keine Gedanken.
Und auf einmal bist du in dieser Fussballer-Bubble.
Genau. Dann hast du auf einmal so viel Zeit. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ich hab' Eistee gesoffen und Fernsehen geschaut. Ich hatte keine Ahnung mehr, was machen. Ich war komplett am Schwimmen, war jetzt Profi, aber keiner half mir. Es fehlte die Struktur.
Du hast dir damals trotzdem nie überlegt, einen anderen Weg einzuschlagen?
Ich hatte in erster Linie Freude, dass mein Bubentraum in Erfüllung ging. Es gab jedoch schon damals Momente, als ich mich fragte: Ist das jetzt Profifussball? Aber du verdienst halt deine 3000–4000 Franken pro Monat und findest es geil. Wir haben zwar selten gewonnen, ich kannte jedoch die andere Seite gar nicht. Eine Saison später sind wir mit Murat Yakin aufgestiegen. Dann ging es steil aufwärts. Ich durfte in Thun fünf schöne Jahre als Fussballer erleben.
Danach folgte der Wechsel zu den Grasshoppers. Was war anders?
Bei Thun war der Zusammenhalt viel grösser. Wir sind zusammen Mittag essen gegangen oder golfen. Bei GC waren wir vielleicht zwei bis drei Leute, die mal etwas unternommen haben. In Thun war es die halbe oder sogar ganze Mannschaft.
Bei Thun war es also viel familiärer?
Genau. In Thun kannte jeder Spieler den gesamten Verwaltungsrat. Bei den Grasshoppers wussten einige der Ausländer nicht mal, wer der Präsident ist. Dass sich solche Sachen auch auf den Teamgeist und die Leistungen auswirken, haben sie nicht begriffen.
Freude scheint im Fussball-Business sowieso relativ bescheiden vorhanden zu sein. Ryan Giggs, ehemaliger Star-Spieler von Manchester United, sagte erst kürzlich, dass er die Spiele nie wirklich geniessen konnte. Und Ex-Liverpool-Profi Jamie Carragher gestand: «Ich habe die Angst vor dem Versagen mit in jedes Spiel genommen. Ich habe mich selbst einem enormen Druck ausgesetzt. Geniessen konnte ich nie, in meinem Fall würde ich sagen, ich habe es ertragen.» Kannst du das nachvollziehen?
Absolut. Das war in meiner Karriere auch so. Es ging eigentlich nie um die Freude. Ich habe mit vielen anderen Spielern gesprochen, bei den meisten ist es genau gleich. Schlussendlich geht es nur darum, die Leistung abzuliefern und Kohle zu scheffeln, damit man später nicht mehr so viel arbeiten muss. Man will das Geschenk, gut Fussballspielen zu können, umsetzen.
Es geht den Profis also nur darum, Geld zu scheffeln?
Nein, natürlich nicht. Aber bei vielen Spielern ist die Angst vor Fehlern immer da – die Angst ersetzt zu werden. Und da nach der Profi-Karriere oft eine Zeit ohne Einkommen ansteht, geht es darum, möglichst viel Geld auf der Seite zu haben.
Hast du als Spieler nicht realisiert, dass Fussball für dich relativ wenig mit Freude zu tun hat?
Nein, man kann sich das während der Karriere gar nicht eingestehen. Du weisst genau: Wenn keine Leistung kommt, wirst du sofort ausgetauscht. Irgendwann wollte ich einfach keine Abstriche mehr machen im Leben, für etwas, das mir keine Freude mehr bereitet.
Wo liegt denn das Kernproblem des Fussballer-Daseins?
Du machst dir selbst einen riesigen Druck. Spieler, die dem Druck standhalten können, sind entweder mental sehr gefestigt oder machen sich lieber einen Gedanken weniger als einen zu viel. Die können das Ganze dann ausblenden, auch wenn sie mal einen Fehler machen.
Warst du mental zu schwach?
Ich habe sicher zu viel überlegt, war zu sensibel. Ja, vielleicht auch zu schwach. Die äusseren Einflüsse sind riesig, ich wollte mich denen entziehen, aber das geht nicht.
Welche Einflüsse?
Immer von einem Trainer oder Verein abhängig zu sein. Das alltägliche Unter-Beobachtung-Stehen. Sich nach dem Spiel von Medien oder Fans die Kappe füllen lassen, von Leuten, die einen gar nicht kennen. Ich hatte keinen Bock mehr darauf.
Fans reagieren emotional. Konntest du das nicht ausblenden?
Man kann es versuchen auszublenden, aber ganz geht das nicht. Die Fans sehen natürlich nicht, was hinter dem Fussballer steckt. Sie müssen und können aber auch gar nicht in das Innenleben der Profis schauen. Was mich störte, war sowieso etwas anderes.
Was?
Einige Fans haben das Gefühl, wir sind ihnen etwas schuldig. Fast schon ein Sklavendenken. Sie haben aber selbst entschieden, ans Spiel zu kommen.
Fans erwarten in erster Linie, dass die Profis alles geben.
Ich habe immer alles gegeben. Es ist ein Trugschluss, wenn Fans denken, Spieler würden das nicht tun. Ich hatte jedenfalls immer das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen.
Es gibt Spieler, die schützen sich bewusst von der Aussenwahrnehmung, indem sie keine Medien mehr konsumieren und sich, so gut es geht, isolieren.
Auch wenn du es selbst nicht liest, du bekommst es immer mit. Du erhältst Nachrichten von Freunden wie «Beni, nimm's nicht so ernst, was die schreiben», und denkst dann so: Danke, ich hab's nicht gelesen, aber jetzt weiss ich, dass es schlimm sein muss. Du kannst nicht ausweichen. Dein Umfeld kümmert sich um dich und wenn sie dich dann versuchen aufzubauen, bestätigt es dein Gefühl, dass du scheisse warst.
Wie geht man damit um?
Wenn du dich mit deinen eigentlichen Problemen auseinandersetzt, wird es eine «Never Ending Story». Wenn du dir eingestehst, dass du mentale Probleme hast, begibst du dich in den freien Fall. Fussballer dürfen sich gar nicht dahin begeben.
Hattest du psychologische Unterstützung?
Ich habe Bücher gelesen. Gelernt, positive Gedanken zu visualisieren. Zum Teil hat mir auch Meditation geholfen.
Du warst dennoch einer der Leader bei GC.
Ja, ich konnte mich gut in andere hineinversetzen, bin auf alle etwas anders eingegangen. Darum war ich wichtig als Leader in der Mannschaft. Aber um mal laut zu werden, dafür war ich bei GC einfach zu schlecht. Es nimmt dir keiner etwas ab, wenn du den Chef spielst, aber die Leistung nicht bringst. Ich war mit meiner Leistung bei GC nie zufrieden, habe aber auch das Vertrauen des Trainers nicht gespürt.
Apropos Trainer: Der hatte keine Freude, als du ihm sagtest, dass du studieren würdest ...
Ja, das ist so. Der Trainer ist so unter Druck, der will nicht, dass sich Spieler weiterbilden, sondern dass Woche für Woche die Resultate stimmen.
Du hast dennoch während deiner Profi-Karriere mit Studieren begonnen.
Ja, aber keiner hat es gemerkt, oder wollte es merken.
Das hat geklappt?
Es war zwar emotional eine weitere Belastung, aber ich habe es richtig genossen, weg vom Fussball zu sein. Ich war froh um ein Umfeld ausserhalb des Fussballs. Ich wurde ja nur auf den Fussball reduziert, das wollte ich nie. Ich wollte auch als Mensch wahrgenommen werden.
Wie ist eigentlich dein Abschied bei GC abgelaufen?
Sie haben mir zum Abschied am Weihnachtsessen einen Stein geschenkt.
Bitte, wie?
Einen riesigen, schweren Stein. Ich glaub', da war noch ein Grashüpfer eingraviert. Ich habe ihn am Weihnachtsessen erhalten und direkt im Restaurant hingestellt und noch irgendwas wie «ich war hier» draufgekritzelt. Es war für mich sowas wie der sinnbildliche Abschluss. Den schweren Stein, welcher der Fussball manchmal für mich war, zurückzulassen.