Blogs
Schweiz

Keine Bluttransfusionen bei den Zeugen Jehovas: Ist das Beihilfe zum Suizid?

Visitors during the special congress of Jehovah's Witnesses on Saturday, 20 July 2024, at the Letzigrund stadium in Zurich. At the special congress of Jehovah's Witnesses, which is taking pl ...
Anhängerinnen und Anhänger der Zeugen Jehovas am Sonderkongress am 20. Juli 2024 im Stadion Letzigrund .Bild: keystone
Sektenblog

Keine Bluttransfusionen bei den Zeugen Jehovas: Ist das Beihilfe zum Suizid?

Eine Zeugin Jehovas erhielt gegen ihren Willen Fremdblut und klagte beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Und bekam Recht.
21.09.2024, 08:0021.09.2024, 08:26
Hugo Stamm
Mehr «Blogs»

Die christliche Bewegung der Zeugen Jehovas (ZJ) gehört zu den problematischen Glaubensgemeinschaften mit deutlichen sektenhaften Zügen. Dazu gehört vor allem auch das Verbot der Bluttransfusion.

Es ist irr: Die Gläubigen sterben lieber bei Unfällen, Operationen oder schweren innerlichen Blutungen, als dass sie sich fremdes Blut durch eine Infusion geben lassen. So sterben immer wieder Gläubige, weil sie den Aberglauben der Gemeinschaft verinnerlicht haben.

Dramatische Szenen in Spitälern

Deshalb kommt es in Spitälern gelegentlich zu dramatischen Szenen. Die Ärzte wollen das Leben ihrer Patienten retten, doch die Zeugen Jehovas verbieten es ihnen. Unterstützt werden die Gläubigen von Krankenhauskomitees, die überwachen, dass die ZJ nicht einknicken und sich die Ärzte an das Verbot halten.

Ein aktueller Fall aus Spanien zeigt, dass Spitalärzte in Teufels Küche kommen, wenn sie das Leben von ZJ mit Bluttransfusionen retten wollen.

Eine Gläubige aus Ecuador, die in Spanien lebt, wurde im Sommer 2018 mit starken inneren Blutungen in ein Spital in Madrid eingeliefert. Sie hatte schriftlich festgehalten, dass sie keine Bluttransfusion erlaube. Die Ärzte erkundigten sich im Eilverfahren bei einem Bereitschaftsrichter, ob sie trotzdem eine Bluttransfusion vornehmen dürften, um das Leben der Frau zu retten. Dieser gab grünes Licht. Das Spital unterliess es, die richterliche Anordnung der Patientin und ihrer Familie mitzuteilen.

Wegen des Verbots auf eine Bluttransfusion starben in Österreich eine Zeugin Jehovas und ihr ungeborenes Kind.Video: YouTube/7PeerLeSs

Bei der Operation wurde eine Transfusion als lebensrettende Massnahme nötig. Als die Zeugin danach davon erfuhr, ging sie rechtlich gegen das Spital vor. Der Richter, der die Transfusion abgesegnet hatte, erklärte in dem Verfahren, er sei nicht vollumfänglich über den Sachverhalt und das schriftliche Verbot der Patientin informiert worden. Trotzdem wies das spanische Verfassungsgericht die Klage ab.

Die Zeugin liess nicht locker und gelangte an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dieses kassierte das Urteil aus Madrid und sprach der Zeugin Jehovas im Urteil vom 17. September dieses Jahres Schadenersatz zu. Sie sei in ihren Rechten nach Artikel 8 und 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt worden.

Es ist nicht primär der freie Wille der ZJ, lieber zu sterben als Bluttransfusionen zuzulassen, sondern ein knallhartes Gebot oder Dogma der sektenhaften Gemeinschaft.

In der Urteilsbegründung hielt das Gericht fest, dass die Ärzte die Autonomie der Patientin nicht genügend respektiert hätten. Es sei ein fundamentales Prinzip des Gesundheitsgesetzes, dass Patienten entscheiden könnten, wie sie behandelt werden möchten. Dieses Prinzip sei durch die EMRK geschützt.

Der Europäische Gerichtshof würdigte zwar die Entscheidung des Bereitschaftsrichters, der das Leben der Frau retten wollte. Durch die fehlenden Hintergrundinformationen habe er aber auf einer falschen Informationsbasis entschieden. Dadurch sei die Frau in ihrem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie ihrer Religionsfreiheit verletzt worden.

epa11266821 Outside view of the European court of Human Rights (ECHR), before the judgment in a case against different European countries accused of climate inaction, at the European Court of Human Ri ...
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, Frankreich.Bild: keystone

Führt Fremdblut zur Identitätsvermischung?

Der EGMR verurteilte den Staat Spanien zu einer Zahlung von 12.000 Euro wegen immaterieller Schäden sowie zu einer Zahlung von 14.000 Euro wegen der entstandenen Kosten gegenüber der Frau.

Die ZJ leiten das Verbot der Bluttransfusion von der Bibel ab. Der Lebenssaft ist für sie heilig. Durch die Blutvermischung werde auch die Identität tangiert, eben vermischt. Die ZJ befürchten, dass Gott die betroffenen Gläubigen am jüngsten Tag nicht mehr richtig zuordnen könne.

Gott stünde also quasi vor dem Dilemma: Steht das Original Heidi Müller oder die Blutspenderin Annemarie Schmid vor mir? Oder ein namenloses Mischwesen? Es scheint, als hätten die ZJ wenig Vertrauen in ihren Gott und seine angebliche Allmacht.

Das Urteil des EGMR ist aus formaljuristischer Sicht kaum zu beanstanden. Aus menschlicher oder moralischer Perspektive schreit es aber zum Himmel. Denn es ist nicht primär der freie Wille der ZJ, lieber zu sterben als Bluttransfusionen zuzulassen, sondern ein knallhartes Gebot oder Dogma der sektenhaften Gemeinschaft.

Verbot gehört zur DNA der Zeugen Jehovas

Denn das Verbot gehört zur DNA der Glaubensgemeinschaft und ist integraler Bestandteil des Glaubens. Deshalb ist der moralische Druck auf die Gläubigen enorm, das Verbot schriftlich festzuhalten.

Es gibt vermutlich kaum ein Zeuge, der sich weigert. Er könnte Gefahr laufen, ausgeschlossen zu werden. Denn alle wissen: Wenn ich mich taufen lasse, muss ich das Verbot einhalten.

Deshalb gäbe es durchaus andere rechtliche Möglichkeiten. Man könnte beispielsweise die Führungsgremien der ZJ mitverantwortlich für den Tod jener Gläubigen machen, die gestorben sind, weil sie eine Transfusion verweigerten.

Ein Beispiel mehr, das zeigt, wie gefährlich ein Glaube sein kann, selbst wenn er auf der Bibel beruht. Statt Gläubigen in allen Lebenssituationen zu helfen, müssen sie im Notfall ihr Leben für einen unsinnigen Glauben opfern. Besonders tragisch wird es, wenn eine schwangere Frau stirbt, weil sie die Transfusion verweigert. Sie reisst dann unter Umständen ihr ungeborenes Kind mit in den Tod.

Urteil als Präjudiz

Das Urteil des EGMR ist für die ZJ ein Präjudiz und ein Triumph. Nun wissen alle Ärzte und Spitäler, dass sie mit Klagen und einer Verurteilung rechnen müssen, wenn sie das Leben von ZJ mit einer Bluttransfusion retten wollen. Aus moralischer Sicht könnte man das Transfusionsverbot der ZJ als Beihilfe zu einer tragischen Form von Suizid betrachten.

Sektenblog

Hugo Stamm, Sektenblog
Bild: zvg
Hugo Stamm
Glaube, Gott oder Gesundbeter – nichts ist ihm heilig: Religions-Blogger und Sekten-Kenner Hugo Stamm befasst sich seit den Siebzigerjahren mit neureligiösen Bewegungen, Sekten, Esoterik, Okkultismus und Scharlatanerie. Er hält Vorträge, schreibt Bücher und berät Betroffene.
Mit seinem Blog bedient Hugo Stamm seit Jahren eine treue Leserschaft mit seinen kritischen Gedanken zu Religion und Seelenfängerei.

Du kannst Hugo Stamm auf Facebook und auf Twitter folgen.
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
556 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
MALUS
21.09.2024 09:22registriert Januar 2021
Ich (*) muss draussen bleiben, sollte für alle medizinische Notfalleinrichtungen gelten.

* religiöser Aberglauben, Sonderwünsche etc.

Notfallteams retten Leben und haben zum Dank Klagen am Hals, wegen Bluttransfusion, dem Geschlecht von Team Mitgliedern, Schweine Fett an Gegenstand xy, etc.

Das muss nicht sein. Solche Klagen sollten nicht zugelassen werden, sie stören das Funktionieren der Einrichtungen.
10916
Melden
Zum Kommentar
avatar
Trouble
21.09.2024 09:24registriert Februar 2016
Ich habe manchmal in der Sprechstunde, wenn wir Bluttransfusionen ansprechen, das Gefühl, dass die Betroffenen dann doch gerne Blut hätten und würden weiterleben wollen. Aber die haben IMMER eine*n Angehörige*n dabei, der/die kontrolliert, dass das Transfusionverbot durchgesetzt und der betreffende Wisch angeschaut und eingescannt wird. Die betroffene Person sagt nichts.

Und es geht ja nicht nur um Fremdblut, sondern auch Eigenblutspenden werden abgeleht. Auch dürfen wir den Cell Saver (Gerät zur Retransfusion des verlorenen Blutes während OPs) nicht einsetzen.
731
Melden
Zum Kommentar
avatar
Rumpelstilz aka Motzbrocken
21.09.2024 11:06registriert November 2023
Nein, ich finde das gut.
1) Sie sterben
2) einer weniger der Missioniert
Wer halt was gegen Wissenschaft und Forschung hat, soll die Konsequenzen tragen und im Notfall halt sterben. Dafür kriegt er ja
ein Platz im Himmel, gleich links hinten, dort wo die ewigen Erbsünder ihre Erbsünden im Himmel absitzen müssen. Bei Harfenklänge… Highway to hell sag ich da nur noch 🤘🤘🎸
647
Melden
Zum Kommentar
556
Züge halten am Bahnhof Zürich Wipkingen nach Umbau wieder

Am Bahnhof Zürich Wipkingen halten ab Sonntag wieder Züge. Zudem brausen auch wieder Fernverkehrszüge vorbei. Die SBB haben die Umbauarbeiten am Bahnhof und die Sanierung des Wipkinger Viadukts abgeschlossen, wie sie am Freitag mitteilten.

Zur Story