Die Frage, ob es Gott gibt, ob er die Welt aktiv lenkt und ob er mit seinen Gläubigen kommuniziert, treibt die Menschen seit Jahrhunderten um. Früher zweifelten die Geistlichen diese göttlichen Eigenschaften nicht an und predigten sie im Brustton der Überzeugung.
Die Gottesdienstbesucher glaubten ihnen. Sie waren autoritätsgläubig und sahen in den Priestern und Pfarrern Gottes Stellvertreter auf Erden.
Mit zunehmender Bildung begannen viele Menschen, eigenständig zu denken und religiöse Dogmen zu hinterfragen. Die kritische Auseinandersetzung mit der christlichen Lehre förderte bei vielen die Überzeugung, dass Gott – wenn es ihn geben sollte – die Menschen auf der Erde ihrem Schicksal überlässt.
Gegen diese Vorstellung wehren sich strenggläubige Christen aus Freikirchen vehement. Sie pflegen weiterhin das Bild vom lieben und barmherzigen Vater im Himmel, der zu seinen treuergebenen Gläubigen spricht und sie liebevoll beschützt.
Dass dies ein naiver Mythos ist, zeigt ein nüchterner Blick auf diese Welt. Nur ein Beispiel: Wo war dieser Gott, als die Tausenden von christlichen Geistlichen ihre schutzlosen, unschuldigen Kinder und Jugendlichen sexuell missbrauchten?
Fortschrittliche Geistliche erklären, dass sie heute ein differenzierteres Gottesbild pflegten. Das klingt bei vielen glaubwürdig. Freikirchliche Pastoren und Prediger sind aber weiterhin in ihrem fundamentalistischen Glauben verhaftet.
Nehmen wir eine Predigt des Münchner Pastors Tobias Teichen vom International Christian Fellowship (ICF) zum Thema Geistunterscheidung und Cancel Culture. Die ICF-Mutterkirche ist in Zürich beheimatet und hat mehrere Dutzend Ableger in rund einem Dutzend Ländern. Insgesamt besuchen viele tausend Gläubige die Gottesdienste. Die Predigt wurde 63'000 Mal aufgerufen.
Was für ein antiquiertes Gottesbild Tobias Teichen seinen Gläubigen – darunter überdurchschnittlich viele junge Menschen – vermittelt, demonstriert er in seiner Predigt. Der Pastor geisselt den Zeitgeist, der vom Satan befeuert werde und auch viele Christen in die Irre führe. Er nennt unter anderem Abtreibungen und Genderfragen.
Bei Fragen des aktuellen Zeitgeistes sollen die Gläubigen den Heiligen Geist und Gott fragen, empfiehlt der Pastor: «Wie siehst du es? Jesus, was denkst du darüber? Regst du dich, Gott, gerade über mich auf?» Tobias Teichen mahnt: Nicht mein Wille geschehe, sondern Gottes Wille.
Gott könne ihnen die Gabe der Geistunterscheidung geben, erklärt der Pastor weiter. Dabei gehe es um die Frage: «Was ist göttlich, was ist menschlich, und was ist teuflisch destruktiv.»
Wörtlich: «Du hast, wenn es schlecht läuft, zwei Gegner in deinem Leben: Der erste ist der Teufel. Er ist gekommen, um zu stehlen, zu rauben und zu töten. Er wird alles tun, damit du deinen Lauf nicht vollendest, dass deine Beziehungen kaputtgehen, dass du kaputtgehst, dass deine Familie zerstört wird.»
«Wenn es schlecht läuft, hast du einen zweiten Gegner, und der ist Gott. Und dann bist du – was soll ich sagen – am Hintern. Dann ist es vorbei. Zwei Gegner zu haben, ist schlecht. Wenn du dich Gott demütig unterordnest, dann wird der Teufel fliehen», sagt Teichen weiter.
Das ist harte Kost. Es sind religiöse Drohungen der groben Art. Voll von offenen und versteckten Anspielungen und Metaphern, die der Indoktrination dienen. Alles, was dir lieb und heilig ist, wird zerstört, wenn du dem Zeitgeist folgst, hinter dem sich der Satan versteckt, suggeriert der Prediger den Gläubigen. Du gehst kaputt – was für eine martialische Sprache! -, deine Familie, deine Beziehungen.
Nach Tobias Teichen gibt es nur eine Lösung: die Unterordnung. Das bedeutet Selbstaufgabe, Selbstzweifel – ich muss mich hüten, eigene Entscheide zu treffen -, Einbruch des Selbstwertgefühls. Das sind klare Attribute der Sektenhaftigkeit und fördert die Verunsicherung und führt in die Abhängigkeit.
Der Prediger setzt noch einen drauf. Stolz sei ebenfalls ein Werkzeug des Satans. Jesus verurteile diesen und verlange Demut: «Jemand, der nicht betet, ist unbewusst stolz.» Die Bibel sage: «Ich bin verflucht, wenn ich mich auf mich verlasse, aber gesegnet, wenn ich mich auf Gott verlasse.»
Was für eine absurde Aussage. Jeder Mensch muss sich täglich, ja stündlich auf sich verlassen und Entscheide fällen, um überleben zu können. Auch der Gegensatz ist sonderbar: Warum können Gläubige sich nicht auf sich und auf Gott verlassen?
Weiter erklärt Tobias Teichen: «Jemand ist stolz, wenn er sagt, er könne es ohne Gott. Wir würden unsere Fähigkeiten auf den Thron setzen anstatt Jesus. Ich selber werde zu Gott, ich weiss es besser. Die ganze Gesellschaft, wir alle sind stolze Säcke. Stolz ist Götzendienst.»
Dann schreit der Pastor rund 30 Mal «Stolz, Stolz, Stolz…» in allen Höhen- und Tiefenlagen den Gläubigen zu. Dabei bewegt er sich wie ein Kobold auf der Bühne. «Stolz ist das grösste Problem der Menschheit. Stolz hat den Teufel aus dem Himmel rausgepfeffert. Stolz ist der Grund, weshalb der Sündenfall kam», behauptet der Prediger.
Tobias Teichen führt Abtreibungen als Zeitgeist an: Früher seien Abtreibungen geächtet gewesen, weil man Leben schützen wollte. Heute habe der Zeitgeist gedreht. Man werde angefeindet, wenn man sich für das Leben der Ungeborenen einsetze. Abtreibungen bis zum ersten Atemzug, also bis zum neunten Monat, seien normal, was nicht stimmt.
Tobias Teichen behauptet ausserdem: «Alles ist homophob. Wenn du sagst, es gibt einen Gott und zwei Geschlechter, dann bist du homophob, und ein Shitstorm bricht über dich herein. Was ist mit unserem Land passiert? Eine gläubige Nation vergisst ihren Gott.»
Die Predigt von Tobias Teichen ist ein weiteres Beispiel für rhetorische Manipulation und religiösen Missbrauch.