Mitglieder von strenggläubigen Gruppen fallen aus allen Wolken, wenn ihre Gemeinschaft als Sekte eingestuft wird: «Ich, ein Sektenanhänger? Das ist völlig absurd», antworten sie aus tiefster Überzeugung. «Sekten sind alle anderen Bewegungen, aber doch nicht wir!»
Zur religiösen oder ideologischen Überzeugung – «wir sind auserwählt und vertreten den einzig wahren Glauben» – kommt die gefühlsmässige Konditionierung. Frisch rekrutierte Gläubige erleben in der Regel ein überwältigendes emotionales Schaumbad, oft eine wahre Euphorie.
Die vermeintliche Gewissheit, die religiöse Wahrheit und die auserwählte Gemeinschaft gefunden zu haben, lassen die Gefühlswelt explodieren. Alle Sorgen und Nöte fallen von den Missionierten ab, die rosige Zukunft schillert in den schönsten Farben und ist auf alle Ewigkeit gesichert, glauben sie. Die Glücksgefühle sind mit dem Zustand des Verliebtseins zu vergleichen.
Dieser psychische Ausnahmezustand wird durch die grosszügige Ausschüttung von Glückshormonen hervorgerufen. Endorphine können also ein Erweckungs- oder Gotteserlebnis vorgaukeln. Der emotionale Höhenflug wird von den Gläubigen gern als Beweis für das Wirken Gottes interpretiert.
Freikirchen sagen frischen Gläubigen Sätze wie: «Jetzt hast du Jesus in dein Herz aufgenommen.» Der Glaube, der Sohn Gottes sei nun ständiger Wegbegleiter, ist für ihre Anhänger überwältigend.
Doch das «ewige Glück» lässt sich nicht konservieren. Ein permanenter hoher Endorphinpegel wird zur Tortur oder zur Qual. Die spirituelle Abkühlung führt im Lauf der Jahre zur Verunsicherung. Die Gläubigen werden von Zweifeln heimgesucht, wenn das Glaubensfeuer nicht mehr lichterloh brennt. Hinzu kommt die Enttäuschung, dass es in der vermeintlich auserwählten Heilsgemeinschaft zu Unstimmigkeiten, Spannungen oder gar Übergriffen und Intrigen kommt.
Die Ernüchterung motiviert Gläubige und Sektenanhänger, die noch einen Rest an geistiger Autonomie bewahrt haben, Recherchen anzustellen. Dabei stossen sie auf kritische Berichte und Texte von Aussteigern, die besonders glaubwürdig wirken. Das ist meist der erste Schritt der Entfremdung und letztlich zur Ablösung.
Dieser Prozess ist extrem schmerzhaft. Alle Hoffnungen fallen in sich zusammen, der vermeintlich befreiende Glaube zerbröselt. Die Aussteiger fallen in ein Loch und rutschen in eine Existenzkrise. Kommt hinzu, dass sie ihr Leben und ihre sozialen Beziehungen auf die Gemeinschaft ausgerichtet haben.
Die soziale Isolation wird zur Belastung. Es fehlen Beziehungen zur Aussenwelt. Die Abtrünnigen müssen in der Umgebung wieder Fuss fassen, die sie jahrelang als fehlgeleitet und feindlich wahrgenommen haben.
Diesen Prozess durchlief auch Philipp Höhener. Er war in eine Familie der Siebten-Tags-Adventisten hineingeboren worden, einer christlichen Freikirche. Wie schwer der Ausstieg für ihn war, schildert er in diesem Artikel:
Aufschlussreich ist auch sein Auftritt in der TeleZüri-Sendung «talk täglich» vom vergangenen Dienstag.
Der Ausstieg gelingt nicht allen Sektenanhängern so gut wie Philipp Höhener. Viele Abtrünnige erleben psychische Probleme, manche rutschen in eine Depression oder Psychose ab. Nicht selten verüben Aussteiger in ihrer Verzweiflung Suizid. Was euphorisch begann, endet oft in der Ausweglosigkeit.