Ausgerechnet an diesem Tag. Es sollte ein Befreiungsschlag werden, als der amerikanische Präsident Barack Obama am Freitag in einem Interview erklärte: Der Islamische Staat (IS) gewinne «momentan nicht an Stärke». Sein Team habe eine Strategie entwickelt, um die Terroristen einzudämmen.
Wenige Stunden später eröffnete der IS eine neue Front. Paris wurde erschüttert von Anschlägen. Die Angreifer kamen kurz nach 21 Uhr. Sie feuerten mit schweren Waffen auf Menschen, die in Cafés sassen. Verwandelten ein Konzert in ein Blutbad. Zielten auf alles, was sich bewegte.
An diesem Freitag verübte der IS seine bislang brutalsten Anschläge im Westen. Und in Washington trat Obama, fahl im Gesicht, erneut vor die Mikrofone. Als «feigen Terror» brandmarkte er die Anschläge.
Der IS sieht das anders. Er versteht sich nicht als Terrormiliz – sondern als Staat. Und als solchen sieht er sich im Krieg. Weil Frankreich im Irak und in Syrien gegen ihn kämpft, verlagert der IS seinen Terror nun eben nach Paris. Tatsächlich soll einer der Angreifer, so berichten Augenzeugen, seine Tat «mit dem Engagement Frankreichs» gerechtfertigt haben.
Wer uns angreift, wird angegriffen. Nicht zum ersten Mal handelt der IS in diesen Wochen nach diesem Muster. Anschläge in der Türkei, Attentate in Beirut, wohl auch das zum Absturz gebrachte Passagierflugzeug in Sharm el-Sheikh: All dies wird dem IS zugerechnet. Die Terroristen tragen den Krieg in jene Länder, die gegen sie kämpfen oder den Kampf zumindest unterstützen. Lange verfolgten sie eine regionale Agenda. Jetzt trifft es auch den Westen.
Roland Popp vom Zentrum für Sicherheitsstudien an der ETH Zürich spricht von einer Kehrtwende. «Im Gegensatz zu al-Kaida operierte der IS lange nicht mit Terroranschlägen im Ausland, sondern mit klar umrissenen Zielen in einem klar definierten Herrschaftsgebiet.» Nun greife offenbar auch der IS zum «Mumbay-Stil»: mehrere Anschläge an mehreren Orten gleichzeitig.
Ganz überraschend kommt diese Entwicklung aber nicht. Der deutsche Islamwissenschafter Christoph Reuter spricht von «einer Diktatur, die um jeden Preis expandieren will». Während Monaten recherchierte er im Innenleben des IS. Mit «Die schwarze Macht» hat er im Sommer ein Buch vorgelegt, das bereits als Standardwerk gilt. «Anschläge sind für den IS kein Selbstzweck», schreibt Reuter, «sondern unterliegen dem Kalkül der Machterweiterung.» Früh war für ihn klar: Der IS ist fähig, auch im Westen einen grossen Anschlag auszuführen. Immer wieder wurden globale Ambitionen laut. Nur standen solche lange nicht auf der Prioritätenliste.
Vor den Anschlägen in Paris hatten die Sicherheitskräfte keine konkreten Erkenntnisse, dass der IS von sich aus Anschläge in Europa plante. Das muss die IS-Führung aber auch gar nicht. Dutzende Attentäter in Europa hatten sich bereits auf sie berufen. Manche von ihnen pflegten nicht mal einen direkten Kontakt zum IS. Wie stark die Pariser Attentäter organisatorisch angebunden waren, ist noch unklar.
Der Islamische Staat ist keine religiöse Sekte und kein Verbund der Fanatiker. Vielmehr versteht er sich als islamistisches Staatsprojekt, dessen Kämpferzellen wie Krebsgeschwülste metastasieren. Seine Anhänger träumen von einer islamischen Utopia, wie sie angeblich zu den goldenen Zeiten des Propheten Mohammed existierte. Die Mehrheit der Muslime, die mit dem IS nichts zu tun haben will, praktiziert demnach einen vermeintlich falschen Islam.
Der IS ist 2003 aus der irakischen al-Kaida hervorgegangen. Heute herrscht er über grosse Gebiete im Irak und in Syrien. Hier hat sich ein islamistisches Reich etabliert. Regiert wird es vom selbst ernannten Kalifen Ibrahim, der ein gottgefälliges «Leben in Würde und Stolz» verspricht. Der Islamische Staat ist aufgeteilt in Provinzen, es herrscht strenge Bürokratie. In Schulen werden Kinder indoktriniert, Gerichte sprechen Scharia-Urteile und Sittenpolizisten unterdrücken jeglichen Widerstand. Mit vielem lässt sich der IS mittlerweile in Verbindung bringen: mit Folter, Massenmorden und Geiselnahmen, mit Ölschmuggel, Menschenhandel und Schutzgeldern. Seine militärischen Fähigkeiten sind, so befürchten Terrorfachleute, denen von Eliteeinheiten ebenbürtig. Der regelrechte Todeskult macht seine Kämpfer bis zum letzten Atemzug kaltblütig.
Der Erfolg des IS basiert mitunter auf seinen finanziellen Mitteln. Die Terrorgruppe hat gleich mehrere Einnahmequellen. In den kontrollierten Gebieten unterhält der IS staatsähnliche Strukturen, verlangt Steuern und erpresst Schutzgeld.
Unternehmen müssen Wegzölle bezahlen. Eigentum von Feinden und Zivilisten, die geflüchtet sind, vereinnahmen die Terroristen. Hinzu kommt der Handel mit geplünderten Kulturgütern, so sie denn nicht zerstört werden, und das Erpressen von Lösegeld von Gefangenen. Allein mit gekidnappten europäischen Journalisten hat der IS schon Millionen eingenommen.
Die mit Abstand wichtigste Einnahmequelle des IS ist aber der Handel mit Erdöl. Die Terrororganisation hat gezielt Gebiete mit Erdölfeldern und Raffinerien erobert, etwa im Osten Syriens. Die «Financial Times» schätzt die vom IS kontrollierte Produktionskapazität auf 34'000 bis 40'000 Fässer pro Tag. Das Erdöl wird auf dem Schwarzmarkt verkauft. Damit erzielen die Terroristen Einnahmen von etwa 1.5 bis 2 Millionen Dollar täglich. Eine Studie der Carnegie-Stiftung schätzt die Jahreseinnahmen des IS gar auf 1.5 Milliarden Dollar.
Mit dem Geld hält der IS gewisse staatliche Leistungen aufrecht, kauft Waffen und bezahlt seine Kämpfer. Laut dem «Economist» zahlt der IS seinen Kämpfern 400 Dollar im Monat – mehr als syrische Rebellengruppen oder die irakische Regierung. Auch die Propaganda-Maschine wird mit dem Geld in Schwung gehalten.
Hinter dem Erfolg des IS steckt eine wohl orchestrierte Kommunikationsstrategie. Laut dem Washington Institute, einer amerikanischen Denkfabrik, hat der IS in einer einzigen Woche 123 Botschaften in sechs Sprachen kommuniziert, 24 davon in Videos. Für die Verbreitung seiner Botschaften nutzt der IS in erster Linie soziale Netzwerke. Geschätzte 50'000 Twitter-Accounts sollen IS-Sympathisanten insgesamt unterhalten.
Im Westen wurden vor allem die surrealen Enthauptungsvideos bekannt. Die Videos sind professionell im Stile Hollywoods produziert. Die Bilder so schockierend, dass sie sich, einmal im Netz, praktisch automatisch über westliche Medien verbreiten. Kommuniziert werden aber nicht nur Bilder von Enthauptungen und Aufrufe zum Heiligen Krieg.
Auch die Utopie von einem islamischen Staat spielt eine zentrale Rolle – mit Bildern von Krankenhauseröffnungen und lachenden Schulkindern. Die Botschaft: Wir bauen etwas Bleibendes auf, sorgen uns um diejenigen, die sich uns anschliessen. Die Propaganda zielt vor allem auf junge männliche Muslime, die sich nach einer Perspektive sehnen. Während der Fokus der Kommunikation auf dem Nahen Osten liegt, fühlen sich Jugendliche und Nachahmer in aller Welt angesprochen. Bis zu 30'000 ausländische Kämpfer haben sich dem IS offenbar bereits angeschlossen.
Der Islamische Staat scheint nicht mehr nur eine Gefahr für den Nahen Osten. In seinen Kernlanden in Syrien und im Irak ist «die grosse Expansionsphase» zwar vorüber, wie ETH-Sicherheitsexperte Roland Popp sagt. Schon jetzt schafft es der IS nicht mehr, Volk und Finanzen zusammenzuhalten. Doch wie schlagkräftig der IS bleibt, zeigen die jüngsten Anschläge. Besiegen lässt sich der IS wohl nur, wenn seine Staatsbasis zerstört wird.
In Syrien und im Irak fehlen die Voraussetzungen dafür: Die irakische Armee ist nur noch ein hohles Gerippe. Der syrische Machthaber Baschar al-Assad lässt die Dschihadisten weitgehend unbehelligt, weil diese ihm andere Rebellen vom Hals halten. Wirklich Krieg gegen den IS führen nur noch amerikanische Kampfjets in der Luft und kurdische Truppen am Boden. Frankreich und Australien sind symbolisch dabei. Russland und der Iran verteidigen vor allem Assad. Die anderen Regionalmächte dagegen halten sich weitgehend heraus.
Und so erweist sich die vor gut einem Jahr ausgerufene internationale Strategie gegen den IS zunehmend als wirkungslos. Spätestens seit der Mordnacht von Paris dürfte der zivilen Welt klar geworden sein, dass sie dem IS weitaus härter entgegentreten muss als bisher. (aargauerzeitung.ch)